MieterEcho online 29.06.2016
Wo bleiben die Grundrechte im Gefahrengebiet?
Im Friedrichshainer Nordkiez wird seit fast einer Woche der Notstand geprobt. Auch Nachbarschaft protestiert dagegen
Es war schon eine besondere Pressekonferenz, zu der die Bewohner der Rigaer Straße 94 am Montagabend auf dem Dorfplatz des Friedrichshainer Nordkiezes eingeladen. So heißt ein Platz an dem viele vor mehr als zwei Jahrzehnten besetzte Häuser liegen und der als Treffpunkt der alternativen Szene gilt. Die Bewohner/innen der ehemals besetzten Häuser haben längst Mietverträge, aber viele von ihnen halten noch an den politischen Idealen der Anfangsjahre fest, engagieren sich gegen Nazis, unterstützten Geflüchtete und mischen sich auch in die Diskussion um die Gentrifizierung ein und bekommen dabei durchaus Unterstützung von Nachbarn. Jüngstes Beispiel ist das Nobelprojekt Carré Sama-Riga, das im Stadtteil viele KritikerInnen zusammenbrachte (siehe MieterEcho Online vom 15.6. 2016).
„Wir leben wie im Gefängnis“
Doch seit knapp einer Woche wird die Diskussion im Friedrichshainer Nordkiez statt über Gentrifizierung wieder über Repression und Staatsgewalt geführt. Am letztem Mittwoch stürmte die Polizei die Rigaer Straße 94 und verließ sie seitdem nicht mehr. In einer Pressemitteilung betonte die Polizei, dass sie mit der Aktion die Tätigkeit der Bauarbeiter sichere, die im Auftrag des Eigentümers Brandschutzmaßnahmen vornehmen und einige Räume zu Flüchtlingswohnungen ausbauen will. Auf der abendlichen Pressekonferenz berichteten HausbewohnerInnen über das Leben im Gefahrengebiet Rigaer Straße. Polizist/innen sind im ganzen Haus verteilt. Wenn sie in ihre Wohnungen betreten wollen müssen sich die Mieter/innen ausweisen. Manchmal werden ihre Taschen kontrolliert. Zudem werden sämtliche Mieter/innenrechte ignoriert. Fahrräder, die im Hof standen, wurden abtransportiert. Zeitweilig war der Strom in den Mietwohnungen abgestellt und auch die Keller, die zu den Wohnungen gehören, sind aufgebrochen worden. Jeder dieser Vorfälle ist ein Bruch des Mietrechts und könnte geahndet werden- doch noch gravierender sind die Einschränkungen der Grundrechte. So wurde Besucher/innen der Hausbewohner/innen in den letzten Tagen mehrmals am Betreten des Gebäudes gehindert. „Wir leben wie im Gefängnis“, beschrieb eine Hausbewohnerin die Situation. Als am Sonntagabend Freunde der Hausbewohner das Besuchsverbot missachteten und über die Absperrung klettern wollten, setzte die Polizei Pfefferspray ein. Es gab mehrere Festnahmen. Ein Mieter des Vorderhauses, der die Szene fotografierte und die Kamera vor der Polizei verbergen wollte, sei vor den Augen seiner Familie geschlagen worden, berichtete eine Tochter des Mannes auf der Pressekonferenz.
Warum ein ganztägiger Polizeieinsatz für einen privaten Eigentümer?
Mittlerweile werden die kritischen Fragen zum Polizeieinsatz lauter. So heißt es in einer Stellungnahme der Bezirksgruppe Friedrichshain der Berliner Mietergemeinschaft: „Es ist bemerkenswert, dass die Belange einer x-beliebigen Briefkastenfirma aus den Panama-Papers als Hauseigentümerin derart kompromisslosen Vorrang haben vor den berechtigten Interessen der Friedrichshainer/innen nach bezahlbarem Wohn- und Lebensraum und dass das Fingerschnipsen eines Investors reicht, um einen riesigen Polizeieinsatz mit horrenden Kosten für die Allgemeinheit auszulösen“. Ein Polizeieinsatz rund um die Uhr, der nicht nur eine Menge Geld kostet, sondern massiv die Grundrechte der HausbewohnerInnen und ihrer NachbarInnen verletzt, dient allein den Verwertungsinteresses des Eigentümers. Erst kürzlich stellten BewohnerInnen eines angrenzen Hauses Strafanzeige wegen Hausfriedensbruch gegen die Polizei, weil die ohne Genehmigung die Dächer betreten hat. Mittlerweile haben auch mehrere MieterInnen der Rigaer Straße 94 juristische Schritte gegen das Vorgehen der Polizei eingelegt. Doch das zentrale Problem ist die Konstruktion von Gefahrengebieten, die all diese Verletzungen von Mieter/innen- und Grundrechten einfach ermöglicht. Durch den Polizeieinsatz wurde gezeigt, dass die Frage: "Wohnst du in einem Haus, das vor zwei Jahrzehnten besetzt war oder in einem Haus, das nie besetzt war" keine Rolle mehr spielt. So ruft am 1. Juli um 21 Uhr die Stadtteilinitiative „Keine Rendite mit der Miete/Friedrichshain“ unter dem Motto „Solidarität mit den BewohnerInnen der Rigaer Straße 94 und allen von Vertreibung bedrohten MieterInnen“ zu einer Videokundgebung auf dem Dorfplatz des Friedrichshainer Nordkiezes auf.
Peter Nowak