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MieterEcho online 13.08.2014

Herzlich willkommen, daheim


Vom demografischen Wandel profitiert vor allem die Pflegeindustrie
Christian Linde

Der private Pflegemarkt boomt und die Kosten explodieren. Dabei könnten seniorengerechte Wohnungen ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden bis ins hohe Alter ermöglichen, den Pflegenotstand lindern und die öffentlichen Haushalte entlasten. Erforderlich dafür wären  Modernisierungsprogramme im Bestand der landeseigenen Wohnungsunternehmen und bedarfsorientierter kommunaler Wohnungsneubau.

„Bekleidung, ein paar Bücher, ein kleiner Schrank, ein Sessel, zwei Kartons und ein paar Bilder“, hakt der Mitarbeiter des Umzugsunternehmens in seinen Unterlagen ab. „Der Rest geht auf den Müll.“ Darunter die komplette Kücheneinrichtung, Wohn- und Schlafzimmer, gepackte Kisten und Kartons. Ziel ist der Recyclinghof der Berliner Stadtreinigung (BSR). Nach knapp vier Stunden kann die Wohnung besenrein übergeben werden. Die Mieterin war nicht dabei. „Weil oft Tränen fließen, raten wir den Angehörigen dazu“, berichtet ein Teamleiter der Transportfirma. Nach über 30 Jahren muss Helene Bauer* ihre Wohnung verlassen. Zwar war die 73-Jährige noch erstaunlich rüstig, zu Fuß ging es aber nicht mehr so gut. Das Haus konnte sie ohne Hilfe nicht mehr verlassen. Auch die Badewanne konnte die Mieterin nicht mehr nutzen. Nachdem die Suche nach einer barrierearmen Wohnung erfolglos blieb, war der Umzug in ein Altenheim die einzige Alternative.

Gang zum Sozialamt

Die Anbieter sprechen etwas vornehmer von Seniorenheimen. Gern vermitteln sie ihren „Kunden“ auch einen Hauch von Diplomatenstatus. Dann ist von „Residenzen“ die Rede. „Hohe Ausstattungsstandards, ein privates Ambiente und umfangreiche, im Preis bereits enthaltene Dienstleistungen prägen das Serviceangebot“, verspricht etwa die „Rosenhof Seniorenwohnanlagen“. Sie preist die letzte Lebensstation als Urlaub an: „Genießen Sie Ihr Leben in einer Seniorenwohnanlage mit Hotelcharakter.“
Die Pflege durch Familienangehörige ist auf dem Rückzug. Mit der weit vorangeschrittenen Auflösung des Familienverbunds und der steigenden Erwerbstätigkeit von Frauen stehen immer weniger Angehörige zur Übernahme der Pflege zur Verfügung. Vielen Betroffenen bleibt beim Umzug in eine Pflegeeinrichtung nur der Gang zum Sozialamt. Denn nicht nur Bewohner/innen eines Einzelzimmers etwa der „Villa Grüntal – Wohngemeinschaften für Senioren GmbH“ in Zehlendorf, wo eine Pflegekraft im statistischen Durchschnitt 1,9 Bewohner/innen betreut, müssen neben den Leistungen der Pflegeversicherung bereits in der Pflegestufe 1 für ein Einzelzimmer zusätzliche Zahlungen von über 2.000 Euro pro Monat aufbringen. Auch im Lore-Lipschitz-Haus der Arbeiterwohlfahrt (AWO) werden trotz eines ungünstigeren Betreuungsschlüssels von 1 zu 2,7 noch zusätzliche rund 1.600 Euro im Monat fällig.
Allein in Berlin existieren mindestens 270 solcher Pflegeheime mit unterschiedlicher Ausstattung. Seit der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 boomt der Markt. Bundesweit existieren inzwischen über 850.000 Heimplätze. Tendenz steigend. Fast täglich ist vom Bau eines neuen Pflegeheims zu lesen. Das Kapital für die Immobilien kommt häufig von privaten Investoren, die die Objekte dann mit langfristigen Verträgen an die Betreiber vermieten. Den Wettbewerb bestimmen Konzerne wie die Kursana Residenzen GmbH, ein Teil der Dussmann-Gruppe oder die börsennotierte Marseille-Kliniken AG.

Alarmsignale wurden ignoriert

Und die Zahl derer wächst, die in entsprechende Einrichtungen wechseln müssen. Ein Grund für die stationäre Pflege sind die häuslichen Verhältnisse, die eine ambulante Versorgung nicht möglich machen. Laut einer Studie des Kuratoriums Deutsche Altershilfe wird im Zuge des demografischen Wandels bereits im Jahre 2020 bundesweit jeder vierte Haushalt 65 Jahre oder älter sein. Demgegenüber gelten gerade einmal 1,4% der verfügbaren Wohnungen als barrierefrei oder barrierearm. Auch Berlin drohe eine „graue Wohnungsnot“, schlugen Verbände bereits Ende 2011 Alarm. In den kommenden Jahren werde es in der Stadt eine extrem ansteigende Nachfrage bei den altersgerechten Wohnungen geben. Das Pestel-Institut ermittelte in einer Studie mit dem Titel „Wohnsituation im Alter“, dass nur ein Bruchteil der erforderlichen altersgerecht sanierten oder neu gebauten Wohnungen zur Verfügung stünde. Bis 2025 seien mehr als 87.500 seniorengerechte Wohnungen in der Hauptstadt nötig.

Bedarf bei landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften

Auch wenn die Menschen länger gesund bleiben, steigt mit zunehmendem Alter der Pflegebedarf. Erreicht werden müsse laut Pestel-Institut, dass im Interesse eines selbstbestimmten Lebens die Dauer des Verbleibs in der eigenen Wohnung so lange wie möglich gewährleistet werde – laut Sozialstrukturatlas 2013 liegt die durchschnittliche Lebenserwartung der Frauen in Berlin derzeit bei 82,6 Jahren, die bei Männern bei 77,6 Jahren. Dieses Ziel habe auch eine ökonomische Dimension, da die stationäre Pflege in Heimen erheblich teurer sei als die ambulante Pflege in den eigenen vier Wänden. „Langfristig könnten mit öffentlicher Förderung geschaffene Bestände an seniorengerechten Wohnungen erheblich zur Entschärfung des Problems der Altersarmut beitragen und gleichzeitig die öffentlichen Haushalte entlasten.“ Beziffere man die Kostendifferenz zwischen ambulanter Pflege zu Hause und stationärer Pflege im Heim mit rund 1.500 Euro pro Monat, beliefen sich die gesamtwirtschaftlichen Einspareffekte bis zum Jahr 2025 auf 2,9 Milliarden Euro und bis zum Jahr 2035 auf 3,2 Milliarden Euro, so das Pestel-Institut.
Während laut Amt für Statistik Berlin-Brandenburg Ende 2007 bereits 630.300 Menschen in der Hauptstadt lebten, die über 65 Jahre alt waren, prognostiziert die Behörde für 2030 rund 818.700 Menschen im Seniorenalter. Zum Vergleich: Eine zu altersgerechten Wohnen 2011 durchgeführte Befragung von insgesamt dreizehn Wohnungsunternehmen, darunter die sechs landeseigenen, hatte ergeben, dass sich lediglich rund 8.000 Wohnungen im Bestand der städtischen Wohnungsgesellschaften und noch einmal 4.000 Wohneinheiten bei den Genossenschaften befanden, die den Mindeststandards altersgerechten Wohnens entsprachen. Der Bedarf ist also immens.
Obwohl auch diese Entwicklung seit Jahren bekannt ist, hat der Berliner Senat erst kürzlich auf die Herausforderung „Wohnen im Alter“ reagiert. Zumindest auf dem Papier. So heißt die Zielvorgabe im soeben vorgelegten Stadtentwicklungsplan Wohnen (StEP) 2025: „Bedarfsgerechter Wohnungsneubau und Anpassung des Berliner Wohnungsbestands im Zuge der demografischen Entwicklung für ein kinder- und familienfreundliches Berlin und für ein möglichst langes und selbständiges Wohnen im Quartier und den eigenen vier Wänden.“

Kommunaler Wohnungsneubau oder Senioren als Kapitalanlage?

Zwar schreibt der Gesetzgeber im Rahmen des § 40 Absatz 4 des Sozialgesetzbuchs (SGB) XI vor, dass die Pflegekasse verpflichtet ist, finanzielle Zuschüsse für „Maßnahmen zur Verbesserung des individuellen Wohnumfelds“ zu gewähren, wenn „dadurch die häusliche Pflege ermöglicht oder erheblich erleichtert oder eine möglichst selbstständige Lebensführung des Pflegebedürftigen wiederhergestellt wird“. Allerdings müssen die Betroffenen nicht nur eine Eigenleistung in Höhe von 10% entrichten, sondern die Maßnahme, begrenzt auf 2.557 Euro, bleibt weit unter den tatsächlich notwendigen Aufwendungen. Insofern ist die öffentliche Hand ohnehin in der Pflicht.
Um den bereits existierenden Versorgungsnotstand abzubauen und das aufgrund der wesentlich kostenintensiveren Krankenhaus- und Heimaufenthalte drohende finanzielle Desaster für die öffentlichen Kassen abzuwenden, ist neben dem Instrument der bedarfsgerechten Anpassung in den Wohnungsbeständen vor allem ein gezielter kommunaler Mietwohnungsbau nötig, der auch mietpreisdämpfend auf den gesamten Wohnungsmarkt wirken würde. Sonst heißt es in den Werbebroschüren der Immobilienfonds auch zukünftig: „Investieren Sie in ein Pflegeheim, 7,25% Rendite pro Jahr, Einnahmen staatlich garantiert.“

*) Namen geändert.
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