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Nur wenige Wochen nach der Vereinigung wurde die Räumung von zwölf besetzten Häusern in Berlin-Friedrichshain im November 1990 von einem Teil der Ostberliner Bevölkerung auch als Warnung empfunden, dass von nun an Eingriffe in das kapitalistische Eigentumsrecht nicht mehr geduldet würden. Der Historiker Jakob Saß ist Mitherausgeber des Bildbands „Traum und Trauma. Die Besetzung und Räumung der Mainzer Straße 1990 in Ostberlin“.
MieterEcho online hat sich mit ihm unterhalten:
 
Was hat Sie an den Ereignissen vor 30 Jahren interessiert?


Jakob Saß: Im Frühjahr 1990 besetzten einige, vor allem Westdeutsche, aus reiner Wohnungsnot leerstehende Häuser in Ostberlin. Viele andere sahen die Besetzungen als Mittel zum Kampf gegen die befürchtete Gentrifizierung im Zuge des Vereinigungsprozesses. Die westdeutsche Autonomenzeitschrift »Interim« warnte zum Beispiel im April 1990 in einem Besetzungsaufruf vor »Wohnraumzerstörung«. Eine Westberliner »Sanierungsmafia« wolle mit Hilfe der ostdeutschen Kommunalen Wohnungsverwaltung die türkische Bevölkerung von Kreuzberg nach Friedrichshain umsetzen, um Kreuzberg »attraktiv« zu machen. Kurz darauf besetzten West- und Ostdeutsche zehn leerstehende, zum Abriss vorgesehene Häuser in der Mainzer Straße, zwei weitere folgten später. Es war das erste große Projekt deutsch-deutschen Zusammenlebens nach dem Mauerfall, wie es der ehemalige Besetzer Freke Over in unserem Buch beschreibt.


Sie stellen im Vorwort des Buches die Frage, warum das Trauma der Räumung nicht aufgearbeitet wurde. Haben Sie eine Antwort gefunden?

Jakob Saß: Das liegt vor allem daran, dass es nach der Räumung der Mainzer praktisch keine gesellschaftliche, politische oder juristische Aufarbeitung der Ereignisse gegeben hat. So überlebten auf linker wie auf  staatlicher Seite bis heute stereotype Feindbilder wie „brutale Bullen“ versus „tötungsbereite Chaoten“ und Mythen um die Ursachen und den Ablauf der Eskalation. Die Räumung zerstörte zudem nicht nur einen Traum von einem Kollektiv außerhalb der kapitalistischen Leistungsgesellschaft sondern ganze Existenzen.


Was ist an der Geschichte der Räumung nach über 30 Jahren noch aktuell?


Jakob Saß: Die Räumung der »Mainzer« im November 1990 steht noch heute symbolisch für die anhaltenden Konflikte der Berliner autonomen Szene mit Politik und Polizei. Diese Konflikte sind im letzten Jahr, zufälligerweise genau 30 Jahre später, durch die Räumungen der Neuköllner Kollektivkneipe »Syndikat« am 7. August 2020 und des querfeministischen Hausprojektes »Liebig 34« am 9. Oktober 2020 wieder hochaktuell geworden. Das gilt auch für mich persönlich, da ich im Friedrichshainer Nordkiez wohne.


AutorInnen des Buches diskutieren am 4. Februar mit ZeitzeugInnen und AktivistInnen aktueller MieterInnenkämpfe. Sehen Sie aktuelle politische Implikationen angesichts von Wohnungsnot und einer in Berlin aktiven Mieterbewegung?

Jakob Saß: Der Geist der »Mainzer« lebt heute auch weiter in der Protestkultur für eine sozialere Wohnungspolitik und städtische Freiräume. Nicht zuletzt könnte man es als Erfolg der BesetzerInnen sehen, dass »ihre« Häuser in der Mainzer Straße und überall in Berlin eben nicht durch Abriss aus dem Stadtbild verschwanden. Paradoxerweise stechen heute die ehemals besetzten Häuser in der Mainzer Straße nach aufwendiger Sanierung besonders hervor – und stehen mit ihren hohen Mieten symbolisch für die Gentrifizierung im Kiez.


Interview: Peter Nowak

Das Buch „Traum und Trauma. Die Besetzung und Räumung der Mainzer Straße 1990 in Ostberlin“ ist im Ch. Links Verlag erschienen, hat 144 Seiten und kostet 20 Euro.
Die Fachschaft Geschichte der FU Berlin organisiert am 4. Februar ab 19 Uhr eine digitale Buchvorstellung mit AutorInnen des Buches, ZeitzeugInnen und aktuellen Berliner MietenaktivistInnen. Hier ist der Link zum Livestream. https://www.youtube.com/watch?v=8BsiK3Xum1Y

 

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