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MieterEcho online 05.12.2011

„Die Gesellschaft und die Wirtschaft müssen sich ändern.“

Proteste in Israel begannen mit der Forderung nach bezahlbarem Wohnraum

 

Interview mit den Aktivist/innen Karin Hemo und Amir Shinan
 

Teure Wohnungen, steigende Lebensmittelpreise, wachsende soziale Ungleichheit – das macht wütend. Aufgrund dessen entzündeten sich in Israel im vergangenen Spätsommer die bisher größten sozialen Proteste in der Geschichte des Landes. Bis zu 400.000 Menschen nahmen an den Massendemonstrationen teil – mehr als 5% der Bevölkerung. In Deutschland wären das über 4 Millionen.

 

Karin Hemo lebt in Haifa und ist aktiv in der Gewerkschaftsjugend „Hanoar Oved Vehalomed“ (lernende und arbeitende Jugend). Amir Shinan wohnt im Nordosten des Landes und ist Mitglied der sozialistischen Organisation „Dror“ (Freiheit). Im Herbst berichteten sie während einer Austauschreise bei mehreren Veranstaltungen in Deutschland von ihren Erfahrungen.

 
MieterEcho: Israel hat gerade die größten Sozialproteste seiner Geschichte erlebt. Wie fing das an?

Amir Shinan (A.S.): Ganz klein und spontan. Im Juli flogen einige junge Leute in Tel Aviv aus ihrer Wohnung, weil sie die Miete nicht zahlen konnten. Aus Protest schlugen die Studenten Zelte auf dem Rothschild Boulevard im Zentrum der Stadt auf. Sie bewarben das Ganze über soziale Netzwerke im Internet. Ihre Botschaft war: Wir zelten hier, weil wir keine Wohnung haben, und alle, denen es ähnlich geht, sollen kommen und mitmachen. Das zeigte Wirkung. In den nächsten Tagen schossen die Zelte nur so aus dem Boden und der ganze Boulevard war übersät damit. In den folgenden Wochen entstanden Zeltlandschaften in vielen anderen Großstädten.
 

Zelten in der Innenstadt, gab es das schon häufiger?

Karin Hemo (K.H.): Nein, das ist eine völlig neue Form des Protests in Israel. Aber es passt gut zum Anliegen, denn es ging schließlich um zu hohe Wohnungskosten.

A.S.: Die meisten Camper waren natürlich nicht wohnungslos, aber sie identifizierten sich mit dem Protest der jungen Leute, weil sie fühlten, dass es auch um sie ging. Mit der wachsenden Beteiligung kamen viele andere Punkte auf die Tagesordnung. Viele realisierten, dass es nicht nur um Wohnungsfragen ging, auch nicht um Lebensmittelpreise oder andere spezifische Probleme, sondern um die Sozial- und Wirtschaftspolitik in Israel. Denn sie ist offensichtlich falsch, weil sie nicht im Interesse der Bevölkerung ist, sondern auf ihrem Rücken ausgetragen wird.
 

Ist diese Situation neu?

A.S.: Nein, neu ist der Protest, die Probleme der Bevölkerung gibt es schon lange. In den letzten Jahrzehnten wuchs die soziale Ungleichheit. Die Mehrheit wurde immer ärmer, während die Preise stiegen. Verschärft wird die Situation durch die Privatisierung von Sozialleistungen und den Abbau des Sozialstaats. Viele Leute haben einfach zu wenig zum Leben. Obwohl sie arbeiten gehen, verdienen sie nicht mehr genug, um die nötigen Dinge des täglichen Bedarfs bezahlen zu können. Auf dem Wohnungsmarkt merkt man das besonders: Die Hauspreise sind in den letzten Jahren um 40% gestiegen, die Mieten um 22%. Es wird immer schwieriger, eine Wohnung zu finden oder sich den – weit verbreiteten – Traum vom Eigenheim zu erfüllen. Das alles schuf mit der Zeit die Stimmung, dass man so nicht mehr leben kann.
 

Wenn das eine so lange Entwicklung war, warum begannen die Proteste erst jetzt und nicht schon vor einigen Jahren?

A.S.: Hätte das jemand vor einem Jahr vorhergesagt, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Das war unvorstellbar. Im letzten Jahr hat sich in der israelischen Gesellschaft etwas zusammengebraut, das jetzt explodiert ist. Es begannen immer wieder kleinere Proteste, etwa gegen Lebensmittel- oder Benzinpreise. Außerdem merkten immer mehr Leute, dass sie ihre Ziele nie erreichen werden, wenn es so weiter geht. Im Moment ist es in Israel beinahe unmöglich, Wohneigentum zu erwerben. Wohneigentum ist für viele Menschen aber sehr wichtig. Wenn sie jetzt merken, dass sie noch so viel arbeiten und sparen können, aber trotzdem nie diese Möglichkeit bekommen werden, dann zerbricht da etwas. Ihnen geht gewissermaßen ein Stück Zukunft verloren. Solche Erfahrungen vor dem Hintergrund der allgemeinen sozialen Schieflage gaben den Ausschlag für die Proteste.

K.H.: Hinzu kamen die Revolutionen in den arabischen Nachbarländern. Zwar herrschte dort eine andere Situation, aber es war eine Inspiration für die israelische Bevölkerung, zu sehen, dass Veränderungen durch Protest erreicht werden können.
 

Die Aufstände in den arabischen Ländern haben epochalen Charakter. Wie sieht das in Israel aus?

A.S.: Auch hier haben wir einen historischen Wendepunkt erreicht. Die Massen stehen auf und sagen: Nein! Wir können so nicht weiterleben, das ist zu viel! Jahrzehntelang haben sie geschlafen. Die Veränderungen in Gesellschaft und Wirtschaft haben sie nicht interessiert. Viele wollten nur ihr eigenes Leben leben, und dachten, dass alles gut wird, wenn sie nur hart genug arbeiten. Jetzt wachen sie gewissermaßen auf. Sie schauen sich um und verstehen, dass ihre Probleme die gleichen sind wie die ihrer Nachbarn, ihrer Freunde und aller, die sie kennen. Und sie realisieren, dass sie Veränderungen nicht alleine erreichen können. Es reicht nicht mehr, seinen Job oder sein Privatleben zu ändern. Die Gesellschaft und die Wirtschaft müssen sich ändern.

K.H.: Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen: Einige Tage, nachdem die Proteste begannen, sah ich mit Freunden Nachrichten im Fernsehen. Was wir dort zu sehen bekamen, war unglaublich. Es wurde der Unterschied zwischen direkten und indirekten Steuern und ähnliche Sachen erklärt. Das gab es vorher nicht. In israelischen Nachrichten fanden sich nie Erklärungen zu ökonomischen Fragen und Begriffen. Es ist eine große Errungenschaft der Proteste, dass einfache Leute beginnen, eine Sprache zu verstehen und zu benutzen, mit der sich die Gesellschaft kritisieren lässt. Heute schlagen sie den Wirtschaftsteil der Zeitung auf und verstehen, was in Staat, Politik und Wirtschaft vor sich geht.
 

Wer sind die Akteure bei den Protesten?

A.S.: Die sind sehr vielfältig. Natürlich nehmen viele politische Gruppen und Organisationen teil und es gibt einige bekannte Gesichter. Aber das Wichtige ist, dass es sich um einen wirklichen Protest von unten handelt. Jeder kann mitmachen. Es wurde darauf geachtet, dass es kein Protest der politischen Linken oder Rechten oder der Parteien wird, sondern ein Protest der „einfachen Leute“, der so weit verbreitert werden sollte wie möglich. Alle, die der Ansicht sind, dass das Leben in diesem Land ökonomisch und sozial zu hart ist, können teilnehmen. Das ist das Besondere und vereinigt sehr viele verschiedene Menschen. Auf den Rednerpulten und Bühnen waren Araber, Juden, Migranten, russische Einwanderer zu sehen, Leute aus der Mittelschicht genauso wie aus der Arbeiterklasse. Angehörige aller möglichen Gruppen der Gesellschaft fanden hier zusammen.
 

Das hört sich sehr diffus an, ist das wirklich eine Stärke oder eher ein Problem?

A.S.: Die Frage stellen wir uns oft. Der Protest wurde stark, weil er für alle offen war. Wäre er von einer Partei oder politischen Strömung vereinnahmt worden, hätte er an Kraft verloren. Die Leute wären weggeblieben, die sich nicht politisch zugehörig fühlen. Andererseits ist es schwierig, die Welt zu verändern, ohne sich mit wichtigen politischen Kräften zu verbünden. Zuallererst geht es aber darum, was erreicht werden soll: Was sind die Ziele und wofür steht der Protest – nicht nur wogegen. Das ist die Hauptsache.
Sind denn schon Erfolge zu verzeichnen?

K.H.: Im materiellen Sinne nicht unbedingt. Durch die Thematisierung der Wohnraumproblematik haben beispielsweise viele Hauseigentümer verstanden, dass sie viel mehr Geld mit ihren Häusern machen können. Während der Proteste erhöhten sie die Mieten. Einige zahlen jetzt mehr als zu Beginn der Proteste. Das ist sehr paradox.
 

Sind die Ziele und Forderungen inzwischen klarer zu benennen?

K.H.: Auf jeden Fall. Die Massen gingen auf die Straße, weil sie sagten: „Genug!“ Sie waren gegen etwas. Jetzt haben sie Hoffnung, dass sich wirklich etwas ändert. Man merkt, dass es immer leichter fällt, zu formulieren, wie man sich ein gutes und würdevolles Leben vorstellt.
 

Was könnte im besten Fall herauskommen?

K.H.: Eine wirkliche Demokratisierung der Gesellschaft. Die beginnt erst mit dem Protest. Er fand schließlich nicht nur auf den Straßen, sondern auch in den Zelten statt. Dort gab es jeden Abend Versammlungen und Diskussionen, und es wurden Komitees gegründet. Das führte die verschiedenen Beteiligten zusammen. Wenn die ihre vielen kleinen Ziele erreichen, dann ist das viel wert. Beispielsweise fordern die Künstler aus Haifa, dass Kunst nicht nur im Museum stattfindet, sondern für alle zugänglich ist und es mehr Kunstprojekte von Arabern und Juden gemeinsam gibt. Das würde die Stadt sehr verändern. Wenn jede der verschiedenen Gruppen einen Erfolg erzielt, dann wird das die israelische Gesellschaft grundlegend verändern. Von da aus werden auch größere Ziele wie ein funktionierender Sozialstaat vorstellbar.
 

Vielen Dank für das Gespräch!
 

Interview und Übersetzung: Philipp Mattern und Igor Hehlke.
 

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