Wie Wohnen zur profitablen Ware wurde
Die Finanzialisierung des Immobilienmarktes als Reaktion auf die Krise der industriellen Massenproduktion
Von Andrej Holm
Die Erträge aus der Wohnungsvermietung lagen in den letzten Jahren in Deutschland bei etwa 150 Milliarden Euro pro Jahr. Der jährliche Umsatz beim Handel mit Wohnimmobilien überschritt in den vergangenen Jahren sogar regelmäßig die 200-Milliarden-Euro-Marke. Weil immer höhere Geldbeträge im Wohnungsmarkt zirkulieren, ist der Wohnungssektor in den letzten Dekaden zu einem attraktiven Geschäftsfeld für institutionelle Investoren geworden. Wenn Wohnen zu einem Anlageprodukt wird, ist oft von der „Finanzialisierung“ der Wohnungsversorgung die Rede. Doch was ist damit eigentlich gemeint?
Spätestens seit der Jahrtausendwende entkoppelten sich die Umsätze des Finanzmarktes von der Realwirtschaft. Der Wert des in Fonds, Aktienkursen und Derivaten zirkulierenden Geldvermögens überstieg den der tatsächlich produzierten Waren und geleisteten Dienstleistungen mittlerweile um ein Mehrfaches. 2020 lag der Gesamtumsatz des globalen Finanzmarktes bei über 820 Billionen US-Dollar, die weltweite Summe aller Bruttoinlandsprodukte bei 86 Billionen US-Dollar.
Aus der Perspektive der kritischen Ökonomie ist die Expansion des Finanzmarktes eine Reaktion auf die Krisen des fordistisch (auf industrielle Massenproduktion orientierten) geprägten Wirtschaftsmodells seit den 1970er Jahren. Weil in diesem Bereich nur noch kleine Renditen realisiert werden konnten, wurde das Geld verstärkt in Finanzmarktprodukte investiert, die höhere Gewinne versprachen.
Der Politikwissenschaftler Thomas Sablowski beschrieb diese Veränderungen als „Übergang von einem eher kredit- und bankorientierten zu einem marktorientierten Finanzsystem“ und verwies damit auf eine Bedeutungsverschiebung des Finanzmarktes in der globalen Wirtschaft. Hatten Banken und Finanzinstitutionen bis dahin als sicherer Hort für das Ersparte und als Kreditvergabeanstalten für eigene Investitionen vor allem einen dienenden Charakter für die kapitalistische Ökonomie, reklamieren Finanzmarktinstitutionen inzwischen eine Führungsrolle und bestimmen die Rahmenbedingungen aller anderen Wirtschaftssektoren.
Wohnungsmarkt als Kapitalsammelstelle
Der Ökonom François Chesnais beschrieb diese Umkehrung der Zweck-Mittel-Relation zwischen Finanz- und Realwirtschaft als den Übergang in ein „finanzdominiertes Akkumulationsregime“. Damit beschrieb er eine wachsende Dominanz des Finanzkapitals in der Wirtschaft und der Politik und eine verstärkte Ausrichtung von Wirtschaftsentscheidungen an den Interessen der Aktionär/innen.
Auf der Suche nach immer neuen Anlagesphären gerieten ab den 1990er Jahren auch die Wohnungs- und Immobilienmärkte in den Fokus des Finanzmarktes. Obwohl es durch die etablierten Kreditfinanzierungen von Wohnungsbauinvestitionen bereits eine ausgeprägte Schnittstelle zwischen dem Immobilien- und dem Finanzmarkt gab, brauchte es verschiedene politische Entscheidungen, um Wohnungen in ein attraktives Anlageprodukt zu verwandeln.
Ein finanzpolitisches Vehikel für die Finanzialisierung des Wohnungswesens waren die gesetzlichen Einführungen von sogenannten REITs (Real Estate Investment Trusts) als steuerbegünstigte Kapitalsammelstellen für Anlagen im Immobiliensektor. Diese Finanzkonstrukte ermöglichten es auch Anleger/innen ohne Kenntnisse der Wohnungs- und Immobilienbewirtschaftung, ihr Geld dort anzulegen. Während es in den USA, den Niederlanden und Australien solche REITs bereits ab den 1960er Jahren gab, etablierten sie sich erst ab den 1990er Jahren als globales Phänomen. In der BRD wurde ein G-REIT (Deutscher Real-Estate-Investment-Trust) im Jahr 2007 von der ersten schwarz-roten Koalition unter Angela Merkel (CDU) eingeführt.
Das zweite Einfallstor waren die massiven Privatisierungen seit Mitte der 1990er Jahre. Bundesweit wurden etwa eine Million Wohnungen von Bund, Ländern und Kommunen an institutionelle Investoren verkauft. Im Unterschied zur Wohnungsprivatisierung in den meisten anderen europäischen Ländern erfolgte sie in der Bundesrepublik nicht als Verkauf einzelner Wohnungen an die früheren Mieter/innen, sondern als En-bloc-Verkauf ganzer Siedlungen und Wohnungsunternehmen. Allein mit den drei größten Privatisierungen der LEG (146.000), der Gagfah (82.000 Wohnungen) und der GSW (64.000) wurden fast 300.000 Wohnungen von der öffentlichen Daseinsvorsorge in Finanzanlagen verwandelt.
Die Erwerber der privatisierten Wohnungsbestände waren überwiegend internationale Private Equity Fonds wie Fortress, Cerberus oder die Deutsche Annington, die auf eine kurzfristige Verwandlung der Immobilien in handelbare Assets und eine spekulative Gewinnerwartung setzten. Das Kerngeschäft dieser ersten Phase der Finanzialisierung war der Handel mit Immobilien-Portfolios. Die meisten Investoren setzten auf den Verkauf von Filetgrundstücken und die Umwandlung in Eigentumswohnungen. Da der Verkauf von Einzelwohnungen für die meisten Unternehmen zu aufwendig war, und sich das Interesse an Eigentumswohnungen in den ehemaligen Sozialwohnungsbeständen in Grenzen hielt, erfolgte der Verkauf von Wohnungsbeständen zumeist an andere institutionelle Anleger und Fonds.
Die Bewirtschaftung der riesigen Wohnungsbestände selbst hatte nur eine nachrangige Bedeutung und war vor allem durch die Reduzierung der Ausgaben für Instandhaltung, Service und Verwaltung geprägt. So wurde in den ersten Jahren nach der Privatisierung die Strategie des „Outsourcings“ verfolgt, bei der viele Aufgaben der Wohnungsverwaltung an kostengünstige Dienstleister ausgelagert wurden. Da die Privatisierungen mit hohen Fremdkapitalanteilen finanziert wurden, war der Gewinn stärker von den Konditionen der Kreditlinien als vom Zustand der Wohnsiedlungen oder den Mieterträgen abhängig.
In den ersten Jahren nach der Privatisierung häuften sich die Beschwerden von Mieter/innen über die schlechten Zustände in den Wohnsiedlungen und die fortgesetzte Vernachlässigung. In Nordrhein-Westfalen beschäftigte sich ab 2013 sogar eine vom Landesparlament eingesetzte Enquete-Kommission mit der Problematik von „Schrottimmobilien“, wie die privatisierten und vernachlässigten Wohnsiedlungen inzwischen benannt wurden. Das Geschäftsmodell in der ersten Dekade bestand im Kern darin, große Wohnungsbestände zu erwerben, neue Immobilien-Portfolios zusammenzustellen und diese für einen möglichst hohen Preis zu verkaufen.
Strategiewechsel nach der Finanzkrise
Mit der Finanzkrise 2008/09 geriet dieses Geschäftsmodell in die Krise, da zum einen der Markt für den Handel mit großen Beständen gesättigt war und die Risikoinvestitionen der Hedgefonds und Private-Equity-Fonds als krisenverursachend wahrgenommen wurden und an Reputation verloren. Gesucht wurden nun verstärkt weniger riskante Investitionsstrategien in stabilen Märkten. Der Immobiliensektor mit seinen permanenten Einnahmen aus den Mietzahlungen und seiner durch die Gebäudesubstanz gesicherten Wertbeständigkeit galt nun nicht mehr nur als Anlagevehikel, sondern als „sichere Bank“ oder „Beton-Gold“. Entsprechend veränderten die institutionellen Investoren ihre Strategie und setzten verstärkt auf langfristigere Bestandsstrategien. Für diesen Trend steht auch die Zunahme von börsennotierten Wohnungskonzernen. Zwischen 2009 und 2023 stieg das Bestandsvolumen dieser Unternehmen von 360.000 auf über eine Million Wohnungen.
Mit der verstärkten Bestandsorientierung haben sich auch deren Bewirtschaftungsstrategien geändert. In einer europaweit vergleichenden Studie zur „Wohnungspolitik unter den Bedingungen der Finanzialisierung“ aus dem Jahr 2023 wurden fünf charakteristische Merkmale der Bewirtschaftung unter der Bedingungen der „Finanzialisierung 2.0“ benannt:
- Orientierung an Bilanzgewinnen, die durch einen Mix aus langfristigem Wachstum, bilanzieller Aufwertung der Buchwerte sowie Strategien der Steuervermeidung gekennzeichnet ist.ccc
- Effizienzgewinne durch Standardisierung und Automatisierung von Service und Verwaltung.
- Wechsel vom Out- zum Insourcing, bei der konzerneigene Servicegesellschaften und Tochterunternehmen steigende Einnahmen aus den Betriebskosten generieren sollen.
- Investitionen in umfangreiche Modernisierungsmaßnahmen, die sowohl auf höhere Mieterträge zielen, als auch die Vermögenswerte der Wohnungsbestände selbst vergrößern.
- Ausschöpfung von Mietsteigerungsmöglichkeiten sowohl in bestehenden Mietverhältnissen als auch bei Neuvermietungen.
Nahezu exemplarisch für die Strategien der Finanzialisierung 2.0 stehen die aktuellen Mieterhöhungen in den Berliner Vonovia-Beständen ebenso wie der Betrug bei Heizkostenabrechnungen und bestimmte Modernisierungsmaßnahmen.
MieterEcho 449 / Mai 2025