Soziales und Friedensfrage verbinden
Interview mit Christoph Butterwegge
MieterEcho: Manifeste Armut und Armutsgefährdung nehmen in Deutschland stetig zu. Hat die jetzt gescheiterte Bundesregierung irgendetwas Strukturelles auf den Weg gebracht, um dieser Entwicklung zu begegnen?
Christoph Butterwege: Die Einführung des Bürgergeldes war ein Versuch, Hartz IV in Vergessenheit geraten zu lassen oder zu „überwinden“, wie SPD und Grüne das nannten. Da gab es zwar manche Erleichterung und Verbesserung für Menschen, die auf eine solche Transferleistung angewiesen sind. Aber diese Reform hat man dann mit einer Rolle rückwärts wieder zum Teil zurückgenommen, indem zum Beispiel der Bürgergeld-Bonus von 75 Euro pro Monat für diejenigen, die einen Sprach- oder Integrationskurs besuchen, wieder gestrichen wurde. Und auch die Sanktionen hat man wieder verschärft.
Der Tenor war: Wir müssen etwas gegen die Totalverweigerer tun. Und damit wurden Vorurteile in Teilen der Bevölkerung bedient, dass die Bürgergeldbeziehenden frohgemut auf dem Sofa sitzen, im Trainingsanzug, mit der Bierflasche vor der Glotze. In Wirklichkeit trifft man Menschen, die psychische Probleme haben oder Angst vor Ämtern haben und Schreiben der Jobcenter gar nicht mehr öffnen. Insofern war die Ampel überhaupt keine Fortschrittskoalition, sondern auf sozialpolitischem Gebiet eher eine Rückschrittskoalition.
Was sind denn außer dem Bürgergeld die derzeit größten Baustellen bei der Armutsbekämpfung? So ist ja zum Beispiel die Kindergrundsicherung auf Bonsaiformat zusammengeschrumpft worden.
Ja. Nachdem Olaf Scholz eine außen-, energie- und militärpolitische Zeitenwende ausgerufen hatte, war eigentlich klar, dass es auch eine sozialpolitische Zeitenwende geben würde. Denn massive Aufrüstung oder Sozialstaat, das ist die Alternative. Allein die Waffenlieferungen an die Ukraine belaufen sich bislang auf 28 Milliarden Euro, davon 8 Milliarden im laufenden Jahr. Für die Schrumpfversion einer Kindergrundsicherung hatte man nur 2,4 Milliarden Euro übrig, die es jetzt auch nicht gibt, weil sie in Rüstungsprojekte und Waffenlieferungen fließen. Das Scheitern der Kindergrundsicherung ist eine sozial- und familienpolitische Bankrotterklärung von SPD, Grünen und FDP.
In linken Kreisen wird oft diskutiert, dass man die Friedensfrage stärker mit der sozialen Frage verknüpfen muss. Wie könnte das konkret aussehen?
Indem man immer wieder solche Rechnungen aufmacht: Für die Kindergrundsicherung ist kein Geld da, aber für Rüstungsprojekte jede Menge. Und es ist ja schon im Gespräch, dass der Rüstungshaushalt von jetzt etwas über 50 auf 85 Milliarden Euro erhöht werden soll. Man kann aber das Geld nicht zweimal ausgeben. Offenbar liegen die Prioritäten eindeutig bei der Rüstung. Man muss die soziale Frage da immer wieder in den Fokus rücken.
Wir als Mieterorganisation erleben tagtäglich, wie der katastrophale Mangel an bezahlbaren Wohnungen immer mehr Menschen in die Armut drückt. Welchen Stellenwert hätte denn eine Lösung der Wohnungskrise generell für die Armutsbekämpfung?
Ich bin ein großer Anhänger des Wiener Modells, um öffentlichen Wohnungsbau zu betreiben. Dazu müssten natürlich die Kommunen entsprechend finanziell ausgestattet werden. Hierfür wäre ein Sondervermögen von 100 oder noch mehr Milliarden Euro sinnvoll. Wenn man, wie in Wien, einen sehr großen Teil der Wohnungen unter öffentlicher Kontrolle hat, dann kann man auch das Mietniveau senken. Und auch da geht es darum, Geld eben nicht in die Rüstung zu stecken, sondern in den öffentlichen Wohnungsbau. Also für Wohnungen, die dauerhaft dem „freien Markt“ entzogen werden. Das wäre auch die Grundlage, um Angehörige besonders betroffener Gruppen mit einer Wohnung zu versorgen, etwa Obdachlose nach dem „Housing First“-Konzept.
Bei all diesen Fragen geht es um eine Umverteilung des Reichtums. Würde man das angehen, dann hätte man in den öffentlichen Haushalten genug Geld, um nicht nur die Wohnungsnot wirksam zu bekämpfen, sondern auch die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen sicherzustellen.
Es gab in der Vergangenheit große soziale Protestbewegungen gegen die Verarmungspolitik, etwa die Hartz-IV-Proteste ab 2004, die ja unter anderem in die Gründung einer anfangs recht erfolgreichen gesamtdeutschen linken Partei mündeten. Doch derzeit werden Sozialproteste von einer breiten Öffentlichkeit kaum noch wahrgenommen. Wie konnte es dazu kommen?
Das hat mit der politischen Kultur Deutschlands zu tun. Heinrich Heine hat Deutschland das „Land des Gehorsams“ genannt. Hingegen existiert zum Beispiel in Frankreich ein soziales Klima, das Proteste eher positiv aufnimmt, etwa Massenproteste gegen die Rentenreform von Präsident Macron. Hierzulande herrscht momentan ein soziales Klima, das es der künftigen Bundesregierung erleichtern dürfte, Sozialabbau zu betreiben. Einerseits wird Stimmung gegen die Geflüchteten gemacht, denen man bei uns angeblich so großzügig hilft, dass immer mehr kommen, und die Kampagne gegen das Bürgergeld suggeriert, dass die Armen in Saus und Braus leben. Andererseits tut man so, als ginge es den Reichen so schlecht, dass man die Unternehmer entweder steuerlich entlasten oder ihnen mit Subventionen stärker unter die Arme greifen müsse. Das hat zwar nichts mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu tun, verschlechtert jedoch auf der einen Seite die Rahmenbedingungen für massenhafte soziale Proteste und erleichtert es auf der anderen Seite den Regierenden, die soziale Ungleichheit noch zu verschärfen. Deswegen fürchte ich, dass allen Unterprivilegierten nach der Bundestagswahl harte Zeiten bevorstehen.
Ist denn in Umrissen bereits erkennbar, was da in sozialpolitischer Hinsicht konkret auf uns zukommt?
Denjenigen, die wenig Geld haben, wird man sagen: Ihr müsst den Gürtel noch enger schnallen, denn wir müssen alle Opfer bringen, um die steigenden Rüstungslasten zu schultern. Dies ist einem Bedrohungsszenario geschuldet, das mit dem Ukrainekrieg völlig irrationale Formen angenommen hat. So zu tun, als könnte die russische Armee in ein paar Jahren nach Berlin, Hamburg oder München greifen, ist völlig abwegig. Dazu kommt die Dämonisierung und Pathologisierung Putins nach dem Motto, das ist ein durchgeknallter Diktator. Putin ist aber ein rationaler Machtpolitiker, der sehr genau weiß, dass allein die USA zehnmal mehr für Rüstung ausgeben als Russland und dass der Militärhaushalt der europäischen NATO-Mitglieder höher ist als der russische Gesamthaushalt. Konkrete Kriegsgefahr geht eher davon aus, dass die NATO durch Lieferungen weitreichender Raketen dafür sorgt, dass dieser angeblich unberechenbare Diktator sich womöglich irgendwann nicht mehr anders zu helfen weiß, als taktische Atomwaffen einzusetzen.
Auch die geplante Aufstellung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen ist gefährlich. Das sind Erstschlagswaffen, wie Anfang der 1980er Jahre Pershing II und Cruise-Missiles. Raketen dieser Art wirken wie Magneten und provozieren geradezu russische Angriffe, weil sie Kommandozentralen und Radaranlagen ausschalten könnten. Da muss eine Friedensbewegung viel Aufklärungsarbeit leisten, um wieder so stark wie in den frühen 1980er-Jahren zu werden, als sie mit dazu beigetragen hat, dass die Raketen wieder abgebaut wurden.
Mit welchen Akteuren und Formen könnte denn jetzt sozialer Widerstand, auch im Schulterschluss mit der Friedensbewegung, entwickelt werden?
Dafür habe ich kein Patentrezept. Das Einzige, was ich habe, ist der Appell, nicht zu resignieren, sich in breiten Bündnissen zusammenzuschließen und Bertolt Brecht zu folgen, der an einer Stelle sagt: „Wer kämpft, kann verlieren. Aber wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ Und an anderer Stelle: „Niederlagen beweisen nichts, außer dass wir zu wenige waren.“
Man muss die Menschen überzeugen, welche Gefahren drohen. Dass sich das Land in eine Richtung entwickelt, die mit sozialen, demokratischen und humanistischen Zielen nichts zu tun hat. Die wachsende soziale Ungleichheit ist Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und eine Gefahr für die Demokratie, aber auch für den Frieden. Denn auf Rüstung folgt Krieg. Und die künftige Regierung – wahrscheinlich unter Führung von Friedrich Merz – wird ja eher noch gefährlicher agieren als die Ampelkoalition, etwa durch die Lieferung von weitreichenden Taurus-Marschflugkörpern. Die Notwendigkeit einer Bekämpfung dieser mit einer Remilitarisierung vieler Lebensbereiche einhergehenden Politik muss stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden. Wie das am besten gelingt, muss jeder selbst wissen; in seiner Gemeinde, in seiner Gewerkschaft, in seiner Partei oder wo auch immer. Dabei muss immer der Zusammenhang zwischen sozialer und Friedensfrage hergestellt werden, um damit Menschen stärker zu motivieren, auch wieder auf die Straße zu gehen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Rainer Balcerowiak.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt die Bücher „Deutschland im Krisen-modus. Infektion, Invasion und Inflation als gesellschaftliche Herausforderung“ sowie „Umverteilung des Reichtums“ veröffentlicht.
MieterEcho 447 / Februar 2025