Deutschland in der Repräsentationskrise
Das Vertrauen in die Lösungskompetenz der herrschenden Parteien ist dramatisch gesunken
Von Ingar Solty
Wissen Sie schon, wen Sie wählen werden? Wollen Sie den Parteien der Ampel-Koalition noch einmal das Vertrauen aussprechen? Werden Sie die umfragenstärkste Oppositionspartei CDU/CSU wählen? Sind Sie erregt genug, der AfD die Stimme zu geben, der womöglich ein Verbotsverfahren wegen verfassungsfeindlicher Bestrebungen droht? Haben Sie vor, der neuen Partei von Sahra Wagenknecht die Stimme zu geben, die mit einem verteilungspolitisch linken, aber gesellschaftspolitisch konservativen Profil eine Lücke im Parteiensystem füllen will? Oder wollen Sie die Linkspartei weiterhin im Bundestag vertreten sehen, die für einen bundesweiten Mietendeckel eintritt, aber seit langem im Umfragetief steckt?
Die Umfragen zeigen eines ganz deutlich: Die Parteien der „Ampel“-Koalition sind historisch unbeliebt. Vor drei Jahren traten sie gemeinsam als „Fortschrittskoalition“ an, die nach 16 Jahren „Merkel-Stillstand“ das Land modernisieren wollte. Drei Jahre später könnte der Vertrauensverlust kaum größer sein: Wie auch die zwei letzten SPD-geführten Bundesregierungen – die von Helmut Schmidt (1974-1982) und Gerhard Schröder (1998-2005) – endet auch die Scholz-Regierung durch vorgezogene Neuwahlen. Bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen am 1. September erzielten die drei Regierungsparteien in Summe nur noch 13,3 bzw. 10,4% der Stimmen. Und auch in Gesamtdeutschland zeigte der Stimmungstest der Europawahl vom Juni 2024 das Ausmaß des Vertrauensverlusts; hier wählten nur noch 13,9% die SPD, 11,9% die Grünen und 5,2% die FDP.
Die schlechten Umfragewerte der Regierung lassen indes nicht auf Begeisterung über die Alternativen schließen. In der von Forsa im Auftrag von RTL und n-tv durchgeführten Umfrage vom 19. November waren es 56% der Bevölkerung, die nicht nur der „Ampel“ keine bessere Politik zutrauen, sondern keiner Partei. Nur 20% der Befragten trauen CDU/CSU Lösungen für die Probleme in Deutschland zu. Die Parteien der im November aufgelösten Ampel-Regierung kommen auf zusammen nur noch 13%. Auch der AfD, obschon sie als einzige tatsächlich von der Krise der Ampel profitiert hat, trauen das nur 8% zu. BSW und die Linke firmieren in Umfrage unter „Sonstige“, die summiert auf 3% kommen.
Parteien agieren nur noch taktisch
Die Ergebnisse sprechen für ein tiefes Misstrauen gegenüber dem politischen System. Dieses spiegelt sich auch in der „Leipziger Autoritarismus-Studie 2024“ wider. Die Demokratie als Idee finden 90,4% der Befragten gut. Mit der „Demokratie, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland funktioniert“, sind jedoch nur noch 42,3% zufrieden. 2022 lag dieser Wert noch bei 57,7%. Besonders dramatisch ist der Vertrauensverlust in Ostdeutschland. Seit Beginn des Ukrainekriegs sank er hier von 53,5 auf 29,7%.
Die Umfragedaten verweisen auf eine Repräsentationskrise. Sie erfüllt sämtliche Kriterien einer „populistischen Situation“: 1.) ein tiefgreifenden Misstrauen gegen die liberale Demokratie und ihre Problemlösungskapazitäten, 2.) starke Anti-Establishment-Stimmungen in der Bevölkerung, die gegenwärtig vor allem die AfD und das BSW bedienen, 3.) die Erosion traditioneller Volksparteien in Bezug auf Mitglieder und Stammwählerschaft und 4.) die Transformation historischer Parteiensysteme, die das Aufkommen neuer Parteien sowie große Koalitionen als Regel statt als Ausnahme sowie Dreiparteienkoalitionen beinhaltet, was das Gefühl der Alternativlosigkeit bei der Wahl bloß verstärkt.
Diese Situation hat ihre materiellen Wurzeln in einer Folge von tiefgreifenden Krisen des globalen Kapitalismus: Globale Finanzkrise, Eurokrise, Migrationskrise, Coronakrise und Ukrainekrise, die mit Inflation, Energiekrise und Deindustrialisierung einhergehen. Obwohl der Staat immense Ressourcen zur Überwindung dieser Krisen aufwendet, ist er angesichts der gigantischen Systemwidersprüche überfordert und findet aus dem ständigen Krisenmodus nicht heraus. Im Ergebnis erodiert das politische Zentrum. Das wiederum schwächt die Problemlösungskapazitäten, denn die geschwächten Parteien werden zu machttaktischen Apparaten, die zunehmend nur noch ihrer Eigenlogik des Machterhalts nach innen und außen folgen. Das heißt, sie verlieren den Anspruch und die Fähigkeit, viele gesellschaftliche Kräfte zu binden und hinter einer langfristigen Vision zu versammeln, die breite Teile der Bevölkerung gemeinsam zu tragen bereit sind.
Deutschland war in Bezug auf die politische Stabilität lange eine Insel der Glückseligen. Die globale Finanz- und die Eurokrise verursachten von den sogenannten „PIIGS“-Staaten in der EU-Peripherie (Portugal, Irland, Italien, Griechenland, Spanien) bis zu den USA (Trump 1.0) und Großbritannien (Brexit) eine Repräsentationskrise und „populistische Situation“, während Merkel weiterhin präsidial und 16 ununterbrochene Jahre regierte. Seit 2022 ist dies vorbei.
Der Ukrainekrieg wirkt als Katalysator einer neuen Blockkonfrontation. Sie hat das Exportmodell von Staat und Kapital in Deutschland zerbrochen. Die Energiekosten drücken auf die Konkurrenzfähigkeit. Das steigert die Begehrlichkeiten an anderen Stellen: Steuersenkungen für Konzerne und Reiche („Wachstumschancengesetz“), Milliarden-Subventionen für das Kapital bei gleichzeitigen Kürzungen im sozialen und kulturellen Bereich, 42-Stunden-Woche, „freiwillige“ Rente mit 70, Rückabwicklung des „Bürgergelds“ zur Disziplinierung der Ware Arbeitskraft.
Die Corona- und vor allem Ukrainekrieg-bedingte Inflation und eine grüne Politik der Dekarbonisierung, die mit dem Heizungsgesetz und der CO2-Steuer, die von 2023 bis 2025 von 30 auf 55 Euro pro Tonne fast verdoppelt wird, treffen vor allem die unteren Klassen, die am wenigsten für den Klimawandel können, und bilden die Basis für einen perfekten Sturm. Die Europawahl und die ostdeutschen Landtagswahlen offenbarten deshalb auch eine ähnliche Proletarisierung der extremen Rechten wie in den USA. Die „Ampel“ hat in einer unverantwortlichen Weise Klimapolitik in einen Gegensatz zur sozialen Gerechtigkeit gebracht. Dass die extreme Rechte die Lage der unteren Klassen nicht verbessern, sondern verschlimmern wird, ändert daran wenig.
Platzhalter für die wirklich Mächtigen
Auch Trumps Wiederwahl ist von dem Paradox gekennzeichnet, dass die Inflation ihm den Wahlsieg schenkte, aber die von ihm angekündigte Schutzzollpolitik die relative Verarmung der lohnarbeitenden Klasse beschleunigen wird, weil sie die Alltagskonsumgüter aus China und dem Globalen Süden, von denen diese Klasse abhängt, massiv verteuern wird. Aber die Schwäche der linken Kräfte, in einer unhaltbar gewordenen Situation einen egalitär-inklusiven Weg aus der Krise zu weisen, stärkt die extreme Rechte, auch wenn niemand von ihr eine Verbesserung der Lage erwartet, ebenso wenig wie von der durch sie stark nach rechts verschobenen konservativen Opposition.
Damit ist aber wohl auch schon in Stein gemeißelt, wer im Amt des Bundeskanzlers auf Olaf Scholz folgt: der im September 2024 von der Union zu ihrem Kanzlerkandidaten gekürte Friedrich Merz. Der Sauerländer steht damit vor seiner zweiten großen Chance. Als Parteirechter mit marktradikalen Positionen und mehr als 18 Nebentätigkeiten – darunter Posten in wenigstens acht Kapitalunternehmen – war er jahrelang im Machtkampf gegen Merkel unterlegen.
Von 2009 bis 2021 hatte er Besseres zu tun und machte aus Nebentätigkeiten Hauptberufliches. Merz ging in die Privatwirtschaft. Als Aufsichtsratsvorsitzender von „BlackRock Asset Management Deutschland AG“ leitete er bis zu seinem Wiedereinstieg in die Bundespolitik die Europageschäfte des US-Investors. BlackRock ist der größte Kapitalfonds der Welt. Niemand besitzt mehr Anteile an den in Deutschland börsennotierten Konzerne. Zugleich ist der Fonds, insofern er auch am Immobilienmarkt tätig ist, einer, wenn nicht längst der „größte Vermieter Deutschlands“, so die Wirtschafts- und Finanzjournalistin Heike Buchter, und bedient als solcher die Renditeinteressen seiner Kapitalbesitzer. So ist BlackRock heute einer der größten Anteilseigner der zwei größten Immobilienkonzerne Europas: Vonovia und Deutsche Wohnen.
Entsprechend nervös reagiert Friedrich Merz auf den Vorwurf, partikulare Kapitalinteressen zu vertreten. Den Vorwurf, „Lobbyist“ zu sein, weist der Kanzler in Wartestellung weit von sich. Eigentlich ist eine Kanzlerschaft von Merz absurd. Aber warum sollte es Deutschland besser ergehen als den USA, wo hinter Donald Trump und seinem Vizepräsidenten J.D. Vance die eigentlich Mächtigen stehen: die Tech-Milliardäre Elon Musk und Peter Thiel.
Ingar Solty ist Politikwissenschaftler und Referent für Friedens-, Außen- und Sicherheitspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
MieterEcho 447 / Februar 2025