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MieterEcho 444 / September 2024

Vom Vorzeigeunternehmen zum Sanierungsfall

Berliner S-Bahn feiert den 100. Geburtstag ihrer Elektrifizierung

Von Rainer Balcerowiak

Vielen leidgeprüften Kunden der Berliner S-Bahn dürfte die Feierlaune in Bezug auf dieses Unternehmen wohl längst vergangen sein. Nicht so der S-Bahn selbst, denn die veranstaltete vom 8. bis 11. August eine dreitägige Feiersause, mit Festveranstaltungen, Sonderfahrten mit historischen Zügen, Ausstellungen, Stadtführungen und Zukunftsworkshops.

In der Tat markierte der 8. August 1924 eine Art Zeitenwende im Berliner Verkehrssystem. Denn da startete die Berliner S-Bahn auf zunächst einer Linie – zwischen Nordbahnhof und Bernau  –  den Regelbetrieb mit elektrisch betriebenen Fahrzeugen. Wobei der Beginn der Elektrifizierung vor 100 Jahren zwar ein wichtiger Meilenstein, aber keinesfalls der Beginn der Entwicklung dieses einstmals überall bewunderten Mobilitätskonzeptes war. Schon zuvor spielte die S-Bahn eine zentrale Rolle für die Infrastruktur der im Zuge der Industrialisierung boomenden Stadt. Es begann Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Ausbau des Fernverkehrsnetzes mit zusätzlichen Gleisen und neuen Haltepunkten. 1872 wurde schließlich die Ringbahn eröffnet, die den gesamten inneren Bereich des damals noch in zahlreiche selbstständige Gemeinden unterteilten Gebietes umschloss und viele Umsteigemöglichkeiten in die Vororte bot. 1877 folgte dann die Stadtbahntrasse. 

Die S-Bahn wurde zum infrastrukturellen Rückgrat der Gründung Groß-Berlins im Jahr 1920. Bereits 1923 beförderte sie über 500 Millionen Fahrgäste pro Jahr. Doch der für Ballungsräume ungeeignete Betrieb mit Dampfloks setzte ihrer Weiterentwicklung enge Grenzen. Die 1924 gestartete und 1930 weitgehend abgeschlossene Elektrifizierung der S-Bahn war schlicht eine Notwendigkeit, um die Mobilität in der boomenden Metropole zu gewährleisten. Berlin verfügte nun über eines der modernsten Nahverkehrssysteme der Welt. Und das sowohl technisch als auch infrastrukturell, denn die Verbindung aus Ringbahn, zentraler Stadtbahn und zahlreichen Außenästen war wirklich ein ganz großer Wurf. 

Es folgte der verheerende Zweite Weltkrieg, der besonders in den letzten Kriegsmonaten auch die S-Bahn beträchtlich in Mitleidenschaft zog. Die konnte allerdings relativ schnell ihren Betrieb Stück für Stück wieder aufnehmen, denn den Siegermächten war klar, dass ihr Funktionieren für den Wiederaufbau Berlins unerlässlich war. Daran änderte auch eine Skurrilität nichts, die durch den Viermächte-Status der Stadt entstand. Denn während sich die Verkehrsplanungen und die Infrastruktur im sowjetisch besetzten Ostsektor und in den Westsektoren zunehmend eigenständig entwickelten, verblieben sowohl das Eigentum als auch die Betriebsrechte der S-Bahn auch im Westen bei der Reichsbahn der DDR. 

Zäsur durch den Bau der Mauer

Die große Zäsur kam im August 1961, als die DDR die Grenzen zu Westberlin abriegelte. Die S-Bahn-Linien wurden an den Grenzen gekappt, einige durchquerten seitdem ohne Halt in den aufwändig gesicherten „Geisterbahnhöfen“ die Ostbezirke, um von nördlichen zu südlichen Teilen Westberlins zu gelangen. Nur in einem Ostberliner Bahnhof, der Friedrichstraße, gab es einen Halt für Westberliner Fahrgäste. Dort gab es einen Transitbereich und einen Grenzübergang.

Am Status der S-Bahn als DDR-Betrieb änderte das nichts. Dort tätige Westberliner blieben Angestellte der Deutschen Reichsbahn und waren in der DDR kranken- und rentenversichert. Dennoch war der Mauerbau natürlich eine Zäsur. Die Westberliner Politik, die zuvor eine Art friedlicher Koexistenz mit der S-Bahn praktiziert hatte, startete einen regelrechten Vernichtungsfeldzug gegen das nunmehr verhasste DDR-Staatsunternehmen. Zunächst wurde unter  der Losung „Wer S-Bahn fährt, finanziert den Stacheldraht“ zum Boykott aufgerufen, allen voran die meinungsmächtige Springer-Presse, aber auch der Deutsche Gewerkschaftsbund. Schon in den ersten Tagen ging die Zahl der Westberliner S-Bahn-Benutzer von täglich einer halben Million auf weniger als 100.000 zurück. Und in der Verkehrsplanung setzte man auf „Alternativen“ zur S-Bahn, unter anderem mit neuen Trassen der Stadtautobahn, die unmittelbar parallel entlang der S-Bahn-Trassen liefen. 

Die Strategie hatte Erfolg. Während die S-Bahn in Ostberlin ein zentraler Mobilitätsanker blieb und auch weiter ausgebaut wurde, sanken in Westberlin die Fahrgastzahlen kontinuierlich. Für die DDR-Reichsbahn wurde der Betrieb im Westen immer defizitärer. Peu à peu wurden Bahnhöfe stillgelegt und später auch ganze Linien eingestellt. Es gab Reallohnsenkungen und Entlassungen und in Verbindung damit im September 1980 Streiks – auf die die Reichsbahn mit über 200 fristlosen Kündigungen reagierte. 

Nach langwierigen Verhandlungen mit den Alliierten übernahm dann im Januar 1984 die BVG die Betriebsrechte für das Westberliner S-Bahnnetz und es wurde sehr viel Geld investiert, um die Betrieb zu reaktivieren und zu modernisieren. Nach der Wiedervereinigung 1990 wurden die gekappten Verbindungen im Verlauf mehrerer Jahre wieder hergestellt. Die Betriebsrechte gingen 1990 formal zwar wieder an die Deutsche Reichsbahn, was aber zunächst keine negativen Auswirkungen hatte.

Derweil werkelte die Nachwende-Bundesregierung bereits an einer „Jahrhundertreform“ für die Bahn, an deren Folgen der Schienenverkehr bis heute gewaltig zu knabbern hat. 1994 beschloss der Bundestag die Überführung der Deutschen Reichsbahn und der Bundesbahn in eine bundeseigene Aktiengesellschaft, die Deutsche Bahn AG. Also eine rechtliche Privatisierung mit dem Ziel, das Unternehmen profitabel zu machen. Die Berliner S-Bahn wurde ein Tochterunternehmen der Bahn AG. 

Was nun (nicht nur) für die S-Bahn folgte, war ein beispielloser Kahlschlag, der das einst weltweit bewunderte Schienennahverkehrs-Unternehmen kontinuierlich an den Rand der Betriebsfähigkeit brachte. Ab 2008 häuften sich Berichte über schwere Pannen und Unfälle. So versagten bei einer Baureihe (BR 481) im Winter regelmäßig die Sandstreuanlagen zur Bremskraftverstärkung, weil die Behälter eingefroren oder nicht korrekt befüllt waren. Bei einem dadurch bedingten Unfall am Bahnhof Südkreuz gab es 33 Verletzte. Ferner gab es mehrere Radbrüche. Bei anderen Baureihen versagten Türschließanlagen oder die Bremszylinder. Von stetigen Pannen durch marode Signal- und Weichentechnik ganz zu schweigen.

Krise noch lange nicht vorbei

Im Sommer 2009 platzte dann dem Eisenbahnbundesamt (EBA) der Kragen. Die S-Bahn musste fast die Hälfte seines Fuhrparks aus dem Verkehr ziehen und einer gründlichen Überprüfung unterziehen. Mehrere Linien wurden komplett oder teilweise stillgelegt, außer der Ringbahn fuhren alle anderen nur im 20-Minuten-Takt. Zeitweilig drohte sogar eine komplette temporäre Stilllegung und der Entzug der Betriebsgenehmigung für die S-Bahn GmbH aufgrund mangelnder Zuverlässigkeit. 

Jetzt zog man bei der Bahn AG die Notbremse und wechselte die gesamte Führungsriege der Berliner Tochter aus. Die Werkstattkapazitäten wurden wieder hochgefahren, auch personell. Die besonders störanfälligen Baureihen wurden nunmehr mit erheblichem finanziellem Aufwand umfassend modernisiert und die Wartungsintervalle deutlich verkürzt. Ferner begannen die ersten Planungen für eine neue Baureihe. Das hat auch einigermaßen geklappt. 

Was natürlich nicht heißt, dass bei der Berliner S-Bahn jetzt alles im Lot ist. Im Gegenteil: Ein „operativ kaum noch zu beherrschendes Niveau“ attestierte die S-Bahn sich selbst in einem Bericht an das Berliner Abgeordnetenhaus im Juli 2024. Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Störungen  auf mehr als 44.000 gestiegen  – ein Plus von 15% im Vergleich zum Vorjahr. Die Zahl der Verspätungen und Zugausfälle stieg um 21 bzw. 52%.

Und auch der immer wieder neu verkündete Eröffnungstermin für eine enorm wichtige Neubaustrecke, die S21, die den Hauptbahnhof mit der Ringbahn und der Nord-Süd-Bahn verbinden soll, ist längst zum Running Gag geworden. Ursprünglich ging die Bahn davon aus, dass die S21 bereits 2006 zusammen mit dem neuen Hauptbahnhof in Betrieb gehen könnte. Nach einer  endlosen Kette von Planungs- und Baufehlern musste der Termin immer wieder verschoben werden. Jetzt soll der erste von drei Teilabschnitten Ende 2024 in Betrieb genommen werden, die komplette Fertigstellung ist für 2037 avisiert.

Aber jetzt wurde erst mal gefeiert. Und wir sollten froh sein, dass die große Elektrifizierung des Berliner S-Bahn-Netzes 1924 startete und nach sechs Jahren weitgehend vollendet war. Für ein vergleichbares Bahn-Projekt müsste man heutzutage wohl eher 60 als sechs Jahre veranschlagen.


MieterEcho 444 / September 2024