Verdrängung hat viele Gesichter
Kreuzberg: Nach 40 Jahren droht einer bekannten Kiezpraxis das Aus
Von Peter Nowak
Schon lange ist bekannt, dass von Verdrängung nicht nur Mieter/innen, sondern auch Einrichtungen der sozialen Infrastruktur wie Kindertagesstätten, Stadtteilbibliotheken und auch Arztpraxen bedroht sind. Im Herbst 2023 sorgte die drohende Kündigung einer Gemeinschaftspraxis in der Köpenicker Straße 1 am Schlesischen Tor für Schlagzeilen, weil sich Patient/innen und Stadtteilinitiativen für den Verbleib der Einrichtung einsetzten. „Kiezpraxis muss bleiben“ lautete das Motto der Kampagne, an der sich auch die Kreuzberger Stadtteilinitiative Bizim Kiez beteiligte.
Schon seit 40 Jahren gibt es die Praxis und sie leistet seitdem einen wichtigen Beitrag für die gesundheitliche Versorgung der Kreuzberger Bevölkerung. Die Praxis hatte einen Gewerbemietvertrag, der jeweils 10 Jahre lief und mehrmals verlängert wurde. Doch im Jahr 2023 erfuhr das Praxisteam per E-Mail, dass eine erneute Verlängerung des Mietvertrags abgelehnt wurde. Mittlerweile gehörte das Haus nicht mehr wie noch einige Jahre zuvor einer GmbH mit Sitz in Berlin, sondern einer Gesellschaft mit Sitz in Luxemburg. Was in der Regel bedeutet, dass die neuen Eigentümer besonders viel Profit aus der Immobilie herausholen wollen.
Da Gewerbemietverträge besonders leicht gekündigt werden können, sind deren Inhaber/innen dann die ersten Opfer einer solchen Strategie. Den unbekannten Eigentümern ist es egal, welche Einrichtungen dann verschwinden sollen. Doch den Nachbar/innen war es nicht egal, dass eine Arztpraxis verschwinden sollte, die für viele ein Anker der Gesundheitsversorgung im Stadtteil ist. Sie organisierten Kundgebungen und eine Onlinepetition, die von über 3.000 Menschen unterschrieben wurde. Auch die Ärzt/innen der Praxis gingen an die Öffentlichkeit und betonten, wie notwendig ihre Arbeit genau in diesen Stadtteil ist.
„Wir stehen in der ersten Reihe im Kampf gegen die Auswirkungen der Drogenkrise, die weit über die Grenzen Berlins hinaus unter dem Schlagwort Görlitzer Park Schlagzeilen macht. Ausgerechnet jetzt sollen wir offenbar nur wegen Kapitalinteressen dichtmachen“, erklärte Stella Begrich, die als Fachärztin für Allgemeinmedizin Teil der Kiezpraxis ist. Ihre Praxiskollegin Christiane Stöter verwies auf die Folgen für die hausärztliche Versorgung älterer Menschen und Menschen mit Beeinträchtigungen, wenn die Praxis verschwinden sollte.
Noch immer keine Lösung in Sicht
Im Herbst 2023 war das Engagement für den Erhalt der Kiezpraxis in Kreuzberg groß. Und zunächst gab es auch einen kleinen Erfolg. Der Mietvertrag wurde um 6 Monate bis Ende Juni 2024 verlängert. Doch wie es weitergeht, ist unklar. „Wir müssen nun definitiv raus. Den genauen Zeitpunkt verhandeln wir noch. Wir suchen jetzt weiterhin intensiv nach Räumlichkeiten“, sagt Volker Westerbarkey von der Kiezpraxis gegenüber MieterEcho.
Die Suche wird nicht einfach. Dabei kommt von der Stadtteilinitiative Bizim Kiez weiterhin Unterstützung. „Die gesundheitliche Versorgung von 5.000 Patient/innen in Kreuzberg darf nicht für das Profitinteresse einiger Weniger geopfert werden. Die Bezirks- und Landespolitik muss alles unternehmen, um die neuen Eigentümer zu einem Vertragsabschluss mit der Praxisgemeinschaft zu bewegen“, lautet deren Forderung. Doch Bizim Kiez hat auch grundsätzliche Forderungen. „Die Bundespolitik muss endlich das Gewerbemietrecht anpassen, damit wichtige soziale Einrichtungen wie Kitas, Jugendzentren, Sportvereine oder Arztpraxen nicht mehr dem Verwertungsdruck zum Opfer fallen“.
Auch dabei handelt es sich um eine Klassenfrage. Schon lange ist bekannt, dass die ärztliche Versorgung in Stadtteilen mit einer einkommensarmen Bevölkerung schlechter ist als in den Vierteln der Reichen. Ärzt/innen mit vielen Privatpatient/innen haben in der Regel keine Probleme mit hohen Mieten. Anders sieht es mit ärztlichen Einrichtungen aus, die vor allem Menschen mit wenig Einkommen behandeln. Die drohende Verdrängung der Kreuzberger Kiezpraxis hat deshalb so viel Aufmerksamkeit erfahren, weil sich Ärzt/innen und Patient/innen dagegen wehren. Dieses Beispiel sollte Schule machen. Denn die Parole „Kiezpraxis muss bleiben“, ist weiterhin aktuell – nicht nur in der Köpenicker Straße.
MieterEcho 442 / Juni 2024