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Tourismus in Berlin: Steigende Gästezahlen und wachsender Unmut
Von Andrej Holm
In den Corona-Jahren 2020/21 reduzierte sich die Zahl der touristischen Gäste in Berlin um fast zwei Drittel. Statt der 14 Millionen Gäste und ihren über 31 Millionen Übernachtungen im Jahr 2019 waren es in der Zeit von Lockdown und Testpflicht nur etwa 5 Millionen Gäste mit insgesamt 12 Millionen bzw. 14 Millionen Übernachtungen pro Jahr. In den letzte zwei Jahren stiegen die Tourismuszahlen wieder kräftig an und erreichten mit über 12 Millionen Gästen und fast 30 Millionen Übernachtungen fast schon wieder das Vor-Corona-Niveau. Und auch die altbekannten Probleme mit dem Tourismus werden wieder akut.
Die Berliner Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) begrüßte Anfang des Jahres zur Vorstellung der Tourismus-Bilanz die steigenden Gästezahlen: „2023 war ein sehr erfolgreiches Jahr für den Berliner Tourismus und das Kongressgeschäft.“ Auch Burkhard Kieker, Geschäftsführer der Berlin Tourismus & Kongress GmbH war begeistert: „Berlin ist angesagt. 2023 sind mehr internationale Gäste zu uns gekommen. (…) Von diesem Erfolg profitiert die ganze Stadt, insbesondere die Kultur-, Tourismus- und Eventbranche.“ Als Geschäftsführer der unter dem Markennamen visitBerlin firmierenden Marketinggesellschaft ist die Begeisterung wenig verwunderlich, schließlich betreibt er im öffentlichen Auftrag Werbung für die Tourismusbranche in Berlin. Neben der Beteiligung des Landes (15%) sind an dem Unternehmen der visitBerlin-Partnerhotels e.V. (40%), die IBB Unternehmensverwaltung AöR (25%), die Flughafen Berlin-Brandenburg GmbH (10%), die Tourismus Marketing Brandenburg GmbH (5%) sowie die IHK und die Messe Berlin GmbH (je 2,5%) beteiligt.
Vor allem für die beteiligten Hotels sind steigende Gästezahlen und Übernachtungen die Geschäftsgrundlage. In den Corona-Jahren lag die Auslastung der Bettenkapazität bei gerade einmal 30% und der stadtweite Umsatz sackte auf 890 Millionen Euro (2020) bzw. 1,09 Milliarden Euro (2021) ab. Zum Vergleich: Vor der Krise im Jahr 2019 wiesen die Statistiken eine Auslastung von 64% und einen Umsatz von 2,45 Milliarden Euro aus. Die Freude von Burkhardt Kieker und anderer Lobbyisten der Tourismusbranche über eine Auslastung von fast 60% und einen Jahresumsatz von 2,28 Milliarden Euro im Jahr 2023 ist also gut nachzuvollziehen.
Immer mehr „Tourismus-Skeptiker“
Die Freude über steigende Umsatzahlen gehört ganz sicher auch zum Aufgabenprofil einer Wirtschaftssenatorin, doch in den typischen Franziska-Giffey-Superlativen ist keine Übertreibung zu klein: „Diese Entwicklung ist gut für unsere ganze Stadt und wir unterstützen die Branche auch weiterhin gezielt, um (…) Berlin zu einer der attraktivsten, innovativsten und nachhaltigsten Städte der Welt zu machen – einfach zu einem Ort, den jede und jeder mindestens einmal im Leben gesehen haben muss.“
Abgesehen davon, dass dieser Wunschtraum bei der weltweiten Bevölkerungszahl von über 8 Milliarden Menschen die Stadt dann wohl doch überfordern würde, stellt sich die Frage, warum die steigenden Tourismuszahlen „gut für unsere ganze Stadt“ sein sollten. Schon jetzt geraten die Kapazitäten Berlins an ihre Grenzen und die jährlichen Akzeptanzabfragen durch vistitBerlin zeigen einen deutlichen Anstieg von Negativstimmungen. Zwischen 2012 (11%) und 2019 (20%) hat sich der Anteil der Bevölkerung, die dem Tourismus gegenüber skeptisch und ablehnend eingestellt ist, fast verdoppelt. Die Corona-Zeit hat auch hier für ein wenig Entlastung gesagt, aber die aktuelle Stimmungslage nähert sich dem Stimmungstief von 2019 an. Stadtweit hatte in den Umfragen der Berliner Marketingstrategen demnach jede fünfte befragte Person eine negative Haltung zum Tourismus.
Das klingt nicht so dramatisch und scheint auf eine breite Akzeptanz zu verweisen. Doch stadtweite Stimmungen werden den räumlich ungleichen Belastungen durch eine touristische Übernutzung nicht gerecht. In früheren Umfragen wurden die Zustimmungswerte nach einzelnen Bezirken ausgewertet und wenig überraschend lagen die Anteile der ablehnenden Antworten in Mitte (36%), Kreuzberg (32%) und Friedrichshain (35%) in der Regel doppelt so hoch wie der Durchschnitt, während vor allem die Befragten in den Randbezirken so gut wie keine Probleme mit dem Tourismus assoziierten. Leider hat visitBerlin die Systematik ihrer Umfragen geändert, so dass seit 2017 nur noch erfasst wird, in welchen Bezirken sich die Befragten mit ablehnenden Haltungen vom Tourismus besonders gestört fühlen. Im letzten Jahr benannten 64% der Unzufriedenen den Bezirk Mitte als den Ort, in dem sie „sich durch den Tourismus eingeschränkt oder gestört fühlen“. Auch Kreuzberg und Friedrichshain wurden dabei überdurchschnittlich oft benannt.
Die Gründe für das räumlich ungleich verteilte Unbehagen liegen auf der Hand, denn auch die konkreten Belastungen durch den Tourismus sind ungleich verteilt. In den Bezirken Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Charlottenburg-Wilmersdorf konzentrieren sich 75% des touristischen Übernachtungsaufkommens. Allein im Bezirk Mitte wurden 2023 über 13 Millionen Übernachtungen registriert, das sind deutlich mehr als in Frankfurt am Main (10,4 Millionen) und fast so viele, wie München (18 Millionen) und Hamburg (16 Millionen) als ganze Städte pro Jahr bewältigen. Charlottenburg-Wilmersdorf mit 4,8 Millionen Übernachtungen überflügelt in diesem Vergleich eine Stadt wie Dresden (4,4 Millionen) und reicht fast an das Niveau von Köln (6,6 Millionen) und Düsseldorf (5,4 Millionen) heran. Friedrichshain-Kreuzberg (4,1 Millionen) verzeichnet so viele Übernachtungen wie Stuttgart (4,1 Millionen) und mehr als Leipzig (3,8 Millionen).
In den drei Bezirken, die die touristische Hauptlast Berlins tragen, konzentrieren sich auch 60% der insgesamt über 700 Beherbergungsbetriebe und 74% der insgesamt angebotenen Betten. Ein Blick auf den zeitlichen Verlauf des Tourismus-booms zeigt nicht nur eine wachsende Zahl von Hotels und Pensionen, sondern auch deutliche Konzentrationseffekte. Seit Mitte der 1990er Jahre haben sich die Zahlen der Gäste und Übernachtungen pro Jahr nahezu vervierfacht. Die stadtweite Zahl der Betten ist von 44.000 im Jahr 1995 auf fast 145.000 im Jahr 2023 um mehr als das Dreifache gestiegen. Die Anzahl der Betriebsstätten hingegen ist nur von 428 auf 718 gestiegen – ein Zuwachs von gerade einmal 68%. Dahinter steht der Trend zu immer größeren Hotels. Statt vieler kleiner Pensionen und Gasthäuser dominieren inzwischen die großen Filialen der international agierenden Hotelketten. Die durchschnittliche Zahl der Betten pro Betrieb ist von knapp über 100 Betten auf über 200 Betten gestiegen.
Auch die neuen Hotelkapazitäten sind dabei nicht überall in der Stadt entstanden, sondern konzentrieren sich auf wenige Bezirke. Vor allem der Bezirk Mitte steht für eine Überformung touristischer Infrastrukturen und die Zahlen verweisen seit 1995 auf einen Anstieg der Übernachtungszahlen von knapp über 2 Millionen auf über 13 Millionen. Rechnerisch übernachten jeden Tag mehr als 36.000 Tourist/innen im Bezirk Mitte – in Marzahn-Hellersdorf sind es nur 708.
Ferienwohnungen verschärfen Wohnungsmangel
Die seit vielen Jahren diskutierten Überlegungen, den Tourismus gerechter in der Stadt zu verteilen, sind ganz offensichtlich gescheitert. In den Corona Jahren haben etwa 180 Hotels und Pensionen ihren Betrieb eingestellt, das entsprach etwa einem Viertel der Beherbergungskapazitäten in Berlin. Seitdem sind 119 neue Beherbergungsstätten dazugekommen, die mit einer durchschnittlichen Bettenzahl von 290 nochmal deutlich größer sind als die Gesamtheit des Berliner Gastgewerbes.
Nicht erfasst in den Statistiken zum Gastgewerbe sind die vielen Ferienwohnungen, die in der Stadt über Plattformen wie Airbnb angeboten werden. Nach Vorgaben des Zweckentfremdungsverbotsgesetzes müssen Ferienwohnungen seit 2014 bei den zuständigen Ämtern registriert werden. Nach Angaben der Senatsverwaltung wurden seitdem 2.245 Ferienwohnungsnutzungen offiziell angemeldet. Die tatsächliche Zahl dürfte wesentlich höher liegen und allein auf der Plattform Airbnb sind nach Angaben des Analyse-Teams Airbtics zurzeit 13.845 aktive Ferienwohnungsangebote gelistet. Bei den durchschnittlich 2,8 Betten pro Angebot umfassen die über 38.000 Betten in den Ferienwohnungen etwa 25% der Beherbergungskapazitäten in den Hotels und Pensionen der Stadt.
Frühere Studien zeigen: Auch das Angebot der Airbnb Ferienwohnungen ist ungleich auf die Bezirke verteilt. Spitzenreiter hier ist Friedrichshain-Kreuzberg mit über 3.200 Ferienwohnungen (24% aller Ferienwohnungen), dicht gefolgt von Mitte mit etwa 2.900 Angeboten (21%) sowie Pankow mit 2.200 (16%) und Neukölln mit 1.900 Inseraten auf Airbnb (14%). Die Ferienwohnungsnutzung von über 10.000 Wohnungen in diesen vier Bezirken entspricht der Hälfte der jährlichen Neubauziele, mit denen der Senat die Wohnungsnot in der Stadt beheben will.
Als Vorteile des Tourismus in Berlin werden regelmäßig die Umsätze und die Beschäftigungseffekte benannt. In einer Studie des DIW werden die direkten und indirekten Wirtschaftseffekte für das Jahr 2919 auf insgesamt 9,4 Milliarden Euro Bruttowertschöpfung geschätzt – das entsprach 6,6% der gesamten Berliner Wirtschaftsleistung. Zudem wurden die Beschäftigungseffekte durch den Tourismus mit fast 230.000 Arbeitsplätzen angegeben – das waren 11% aller Erwerbstätigen in Berlin. Die Studie greift auf eine von der Welttourismusorganisation der Vereinten Nationen (UNWTO) entwickelte Methodik zurück, um die durch den touristischen Konsum induzierte Wertschöpfung möglichst umfassend zu erheben und auch die Umsatz- und Beschäftigungseffekte entlang der Produktions- und Dienstleistungsketten zu berücksichtigen. So werden etwa die Transportdienstleistungen, z. B. für die Wäschelieferungen der großen Hotelketten oder das Reinigungspersonal von gastronomischen Einrichtungen, als indirekte Beschäftigungseffekte aufgenommen.
Prekäre Beschäftigung dominiert
In der profaneren Analyse durch die Statistikbehörde von Berlin-Brandenburg werden lediglich die unmittelbaren Umsätze und Beschäftigtenzahlen im Beherbergungs- und Gastgewerbe erfasst. Im Jahr 2019 beschäftigten die 787 Beherbergungsbetriebe in Berlin knapp 20.000 Mitarbeiter/innen und erzielten einen Umsatz von 2,45 Milliarden Euro im Jahr. Im Gastgewerbe wurden über 9.800 Einrichtungen gezählt, die knapp 95.000 Personen beschäftigten. Der Umsatz der Restaurants, Cafés, Kneipen und Caterer lag im Jahr 2019 bei 4,4 Milliarden Euro. Die aktuellen Werte liegen leicht darunter. Die insgesamt knapp 115.000 Beschäftigten entsprechen weniger als 6% aller Erwerbstätigen in der Stadt.
Aus dem Jahr 2019 liegen auch Informationen zu den gezahlten Entgelten vor, die deutlich zeigen, dass die Tourismus-Industrie vor allem ein Niedriglohnsektor mit prekären Arbeitsverhältnissen ist. Im Gastgewerbe wurden den Mitarbeitenden durchschnittlich 23.303 Euro pro Jahr gezahlt – das entspricht etwa 1.942 Euro im Monat. Noch düsterer sieht es in der Gastronomie aus. Hier wurden im Schnitt nur 11.548 Euro pro Jahr gezahlt – das sind weniger als 1.000 Euro im Monat.
Fazit: Die Tourismusindustrie nutzt den guten Ruf der Stadt und die vielen kulturellen Angebote Berlins für ihre Geschäftsmodelle und gibt der Stadt und der Stadtgesellschaft nur wenig zurück. Die räumlich konzentrierten Belastungen durch touristische Übernutzung und die Belegung von dringend benötigten Wohnungen durch die Ferienwohnungsnutzung werden durch die eher schlecht bezahlten Jobs im Gastgewerbe und der Gastronomie nicht aufgewogen.
Weiterlesen:
DIW 2021: Wirtschaftsfaktor Tourismus in Berlin – TSA 2019
MieterEcho 444 / September 2024