Pharma fürs Volk
Das globale Oligopol großer Pharmakonzerne verhindert die bedarfsgerechte Versorgung mit Medikamenten
Von Beat Ringger
Im Buch „Pharma fürs Volk“ untersuche ich eine Arzneimittelkrise, die zwar schon seit Jahrzehnten schwelt, sich gerade aber erheblich akzentuiert: Preise, die ins Unermessliche steigen; wichtige Standard-Medikamente, die nicht mehr lieferbar sind; zunehmende Antibiotika-Resistenzen, gegen die keine neuen Medikamente entwickelt werden; eine globale Spaltung in Nord und Süd, die immer wieder von Neuem aufgeladen wird. Mittendrin in dieser Krise: Die Schweiz als einer der wichtigsten Standorte der Pharmabranche.
Diese Arzneimittelkrise ist nicht mehr hinnehmbar. Was mit öffentlichen Geldern an Wirkstoffen entwickelt wird, muss mit offenen Patenten für die Gesellschaft gesichert werden. Die Preise sollen auf Basis effektiver Kosten festgelegt werden. Der Zugang der Bevölkerungen zu allen essenziellen Medikamenten muss für alle, auch im Globalen Süden, gesichert werden. Und es braucht eine „Pharma fürs Volk“, einen Verbund aus öffentlichen Labors und gemeinnützigen Unternehmen, die gemeinsam die nötige Macht aufbauen, um das Oligopol von Big Pharma zu durchbrechen.
Astronomische Preise
Zolgensma, ein neues Novartis-Medikament gegen spinale Muskelatrophie, kostet pro Behandlung über 2 Millionen Euro. Krebsbehandlungen, die oft über mehrere Jahre andauern, kommen auf Gesamtkosten von über 500.000 Euro. Für Medikamente mit breitestem Einsatz (etwa Sovaldi oder Malviret gegen Hepatitis C) werden zehntausende US-Dollar, Euro, Franken verlangt – bei Produktionskosten von unter 200 Euro.
Die Grafik zeigt das Ausmaß der Preissteigerungen in Deutschland. Herausragend ist die gepunktete Kurve: Das sind die Preise für jene Arzneimittel, die jeweils in den letzten 18 Monaten auf den Markt gekommen sind. Für diese Kategorie sind die Kosten pro Packung in nur drei Jahren von unter 5.000 Euro auf über 40.000 Euro explodiert. Für die Gesundheitsversorgung aller Länder hat dies Sprengkraft, im Globalen Süden ohnehin, neu aber auch im Globalen Norden. Immer häufiger wird auch hierzulande den Patient/innen aus finanziellen Gründen die Versorgung mit den bestmöglichen Medikamenten verweigert.
Nächste Pandemie ist Realität
Antibiotika bekämpfen bakterielle Erreger wie etwa die Verursacher von Lungenentzündungen, Tuberkulose, Cholera, Wundbrand, Typhus und vielen weiteren Erkrankungen. Doch der unsachgemäße Einsatz der Antibiotika einerseits, die Verschmutzung von Gewässern durch die Wirkstoffhersteller andererseits, haben die Resistenzbildung massiv gefördert. Die Zahl der Erreger, die gegen die herkömmlichen Antibiotika resistent geworden sind, wächst beständig. Mittlerweile sterben jährlich 4,95 Millionen Menschen weltweit an und mit antibiotikaresistenten Keimen, Tendenz steigend.
Die gute Nachricht lautet: Das Reservoir zur Entwicklung neuer Antibiotika ist groß. Von den 8.000 identifizierten natürlichen Antibiotika, wie sie etwa Pilze zum Schutz gegen Bakterienbefall produzieren, werden erst rund 100 medizinisch genutzt. Die schlechte Nachricht: Die Pharmakonzerne haben sich weitgehend aus der Antibiotika-Entwicklung zurückgezogen, weil diese zu wenig profitabel ist. Sie versuchen zwar, sich irgendwie „im Spiel“ zu halten. Sie sind aber nicht bereit, den Vertrieb neuer Antibiotika zu übernehmen. Deshalb sind in den letzten Jahren mehrere junge Firmen Konkurs gegangen, die neue und wirksame Antibiotika auf den Markt gebracht haben, aber für den weltweiten Vertrieb auf grosse Partner angewiesen gewesen wären. Derweil lobbyiert Big Pharma für exorbitante Preissteigerungen bei neuen Antibiotika …
Die Arzneimittelkrise hat noch etliche weitere Aspekte, so zum Beispiel die laufende Zunahme von Engpässen oder gar von Totalausfällen bei den Medikamenten, für die kein Patentschutz mehr gilt. In der Schweiz waren zu Beginn des Jahres 2024 über 1.000 Produkte aus mehr als 300 verschiedenen Wirkstoffklassen nicht verfügbar. Der Grund: Gemessen an den hohen Gewinnerwartungen sind Standard-Medikamente wenig profitabel. Taucht dann noch irgendein Problem bei der Herstellung auf – zum Beispiel eine verschmutzte Charge von Wirkstoffkomponenten – stellen viele Produzenten die Herstellung oft ganz ein.
Aktienrückkäufe statt Medikamente
Die Pharmabranche gilt als profitabelste Branche weltweit. Die Gewinnmargen liegen bei den großen Pharmakonzernen im Schnitt bei 25% und angestrebt werden, etwa bei Novartis, Kernprofitmargen von 40%. Ein wachsender Teil dieser Gewinne wird allerdings nicht mehr ins Pharmageschäft investiert, sondern für Finanzoperationen eingesetzt, wie zum Beispiel für Aktienrückkäufe. Allein vom November 2021 bis im Herbst 2023 haben Roche und Novartis zusammen eigene Aktien im Wert von über 50 Milliarden US-Dollar zurückgekauft und anschließend vernichtet, um die Kurse der verbleibenden Aktien in die Höhe zu treiben. Solche Finanzgeschäfte belegen, wie falsch die Beteuerungen der Konzerne sind, wonach die hohen Medikamentenpreise nötig seien, um die Forschung und Entwicklung neuer Medikamente zu bezahlen.
Jahrzehntelang wurde versucht, den großen Pharmakonzernen mit Regulierungen beizukommen, jedoch mit mäßigem Erfolg. Deshalb braucht es eine neue Strategie: Das Oligopol von Big Pharma muss mit einem gemeinnützigen Verbund von öffentlichen Instituten und gemeinnützigen Pharmafirmen durchbrochen werden. Es braucht Forschungs-, Produktions- und Vertriebseinrichtungen, die gemeinsam in der Lage sind, die nötigen Medikamente zu entwickeln, zu produzieren und weltweit zu vertreiben, und zwar außerhalb der Profiterwartungen der privaten Pharmabranche.
Es gibt Alternativen
Bereits heute gibt es eine Vielzahl von solchen gemeinnützigen Akteuren, die jedoch (noch) nicht als Verbund agieren. Dazu gehören etwa die National Institutes of Health in den USA, die Drugs for Neglected Deseases Initiative (DNDi), die Global Antibiotic Research and Development Partnership (GARDP), aber auch kleinere Akteure wie etwa die Zürcher Kantonsapotheke, die Medikamente für jährlich rund 300.000 Behandlungen herstellt (vor allem für Krebstherapien).
DNDi wurde 2003 von den Médecins sans Frontières, von der Weltgesundheitsorganisation WHO und fünf international tätigen öffentlichen Forschungsinstituten gegründet, mit dem Ziel, Medikamente gegen vernachlässigte Krankheiten zu entwickeln und zu vertreiben. Der bislang größte Erfolg: der Vertrieb von über 500 Millionen Einheiten moderner Malariamedikamente im Globalen Süden zu einem Preis von unter einem Dollar pro Behandlung. GARDP, ebenfalls global tätige Non-Profit-Organisation, forscht und entwickelt seit der Gründung 2016 an neuen Antibiotika. Im April 2024 konnte GARDP erstmals den erfolgreichen Abschluss der klinischen Studien für ein neues orales Antibiotikum (Zoliflodacin) vermelden, das gegen multiresistente Erreger von Gonorrhoea (Tripper) wirkt, die sich gerade deutlich ausbreiten. Beide Organisationen arbeiten mit bescheidenen Mitteln, mit Jahresbudgets im zweistelligen Millionenbereich. Im Vergleich mit Big Pharma ist das ein Klacks – und dennoch lassen sich damit in einem Non-Profit-Setting erstaunliche Erfolge erzielen.
Erfreulich: Ende 2022 bildete sich in Basel die neue Gruppe „Pharma für Alle“. Zusammen mit zehn weiteren Organisationen lanciert sie derzeit eine kantonale Volksinitiative. Diese verlangt die Einrichtung eines Basler Fonds, der jährlich mit rund 75 Millionen Schweizer Franken gespeist werden soll. Der Kanton Basel-Stadt soll sich so für eine sichere Versorgung der Bevölkerung mit qualitativ hochwertigen Arzneimitteln im Kanton, in der Schweiz und global engagieren und entsprechende gemeinnützige Projekte mitfinanzieren. Die Gruppe ist zuversichtlich, dass die Initiative in der bevorstehenden Volksabstimmung eine Mehrheit überzeugen kann. Europaweit hat sich in diesem Frühling die Organisation „PublicPharma“ gebildet, die ähnliche Ziele verfolgt. Eine neue Form alternativer Pharmapolitik beginnt sich gerade zu formieren. Es ist höchste Zeit.
Beat Ringger ist freischaffender Autor und Publizist. Er war von 2004 bis 2020 geschäftsleitender Sekretär des sozialkritischen Schweizer Thinktanks Denknetz (www.denknetz.ch).
MieterEcho 442 / Juni 2024