Musterbeispiel für verfehlte Quartiersentwicklung
Anwohner/innen des Kreuzberger Mehringplatzes leiden unter stetiger Verschlechterung ihren Lebensbedingungen
Von Tom Küstner
Die Probleme am Mehringplatz in Kreuzberg, der sich von einem ehemals beschaulichen und multikulturellen Viertel zu einem sozial und infrastrukturell maroden Bereich entwickelt hat, verdeutlichen die systemischen Mängel von neoliberalen Fördermittelprogrammen.
Der Platz liegt in Kreuzberg direkt am U-Bahnhof Hallesches Tor und ist Teil der südlichen Friedrichstadt, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Nach dem Mauerbau wurde der Bereich zu einer Randlage Westberlins und es entstand in den 1970er Jahren eine Großwohnsiedlung mit sozialem Wohnungsbau. Der Kiez war zunächst als „lebenswerter Ort“ konzipiert, mit einer Mischung aus Wohnblocks, Fußgängerzonen, kleinen Läden und Sozialräumen. Heute gilt er als „Schandfleck“, ein Ort, der nicht in die „aufgewerteten Viertel“ Berlins passt.
Die Nachbarschaft ist geprägt von vielen Menschen mit Migrationshintergrund und Transferleistungsbezieher/innen. In den letzten Jahren hat sich die Zahl der Konflikte deutlich erhöht. Gewalt, Müllprobleme und mehr Obdachlosigkeit sind Anzeichen für die Abwärtsspirale.
Diese Entwicklung wurde durch das Versagen der Stadtverwaltung und der landeseigenen Wohnungsunternehmen (LWU), wie in diesem Fall der Gewobag, sogar verstärkt. Die LWU müssen trotz öffentlicher Eigentümerschaft gewinnorientiert arbeiten, was zu Vernachlässigung und Missmanagement führt. In den vergangenen Jahren ist die Qualität der Wohnumfeldverhältnisse erheblich gesunken. Defekte Laternen, kaputte Aufzüge, schlechte Heizungen und unzureichende Reparaturen sind alltägliche Probleme. Die Gewobag zeigt sich unkooperativ und überfordert, wenn es um die Behebung von Mängeln geht.
Falsche Prioritäten
Die Stadtentwicklung im Kiez ist durch eine Mischung aus neoliberalen Ansätzen und falschen Investitionsprioritäten geprägt. Statt die bestehenden sozialen Strukturen zu unterstützen, wurden Gelder im Quartiersmanagement und diversen Stadtentwicklungsprogrammen mit ihrem ambivalenten sozialen Charakter versenkt. Diese Projekte begünstigten eher Gentrifizierung, als einen sozialen Aufstieg der verarmten Bevölkerung zu unterstützen. Die „Sanierung“ der öffentlichen Räume beschränkte sich auf kosmetische Maßnahmen, die keinen praktischen Nutzen für die betroffenen Menschen brachten.
Das Gefühl der Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen der Anwohner/innen wurde durch die Bürokratie der Fördermittelkulissen zusätzlich verstärkt, da hier die Probleme nicht gelöst, sondern nur kostensparend verwaltet werden. Der Versuch, durch Bürgerbeteiligung Verbesserungen herbeizuführen, wird von vielen als reine Alibimaßnahme wahrgenommen.
Der Exodus von Geschäften und die Schließung des einzigen Supermarktes in der Nähe haben das Leben hier weiter erschwert. Es wurde versäumt, für eine adäquate Nahversorgung zu sorgen, während gleichzeitig immer mehr Hipster-Geschäfte und teure Cafés eröffnen, die für die ursprüngliche Bevölkerung zu teuer sind.
Betroffen sind vor allem die Jüngeren und die Älteren. Jugendliche leiden unter einer unzureichenden sozialen Infrastruktur und dem Mangel an Freizeitmöglichkeiten. Die lokale Jugendfreizeiteinrichtung KMA kämpft mit maroden Gebäuden und fehlender finanzieller Unterstützung. Ältere Menschen, vor allem diejenigen in den Hochhäusern, sind von den immer wieder ausfallenden Fahrstühlen gebeutelt. Es gibt aber auch Widerstand gegen die fortschreitende Vernachlässigung. Gruppen wie die „Guerilla Architects“ und der „Revolutionäre Anwohner*innen-Rat“ (RAR) organisieren sich, um den Problemen des Viertels eine Stimme zu geben.
Die Mängel in der Infrastruktur und die wachsende soziale Ungleichheit sind das Ergebnis einer Politik, die nicht die Bedürfnisse der Bürger/innen in den Vordergrund stellt. Der Kiez wurde so zu einem „Labor“ für städtische Experimente. Die Geschichte des Mehringplatzes ist ein Beispiel, wie „gute“ Stadtplanung in der Praxis versagen kann, wenn sie auf den falschen Prioritäten basiert.
MieterEcho 446 / Dezember 2024