Lücke mit System
Viele Bürgergeldempfänger/innen müssen Teile der Wohnkosten aus dem Regelsatz finanzieren
Von Sebastian Gerhardt
Wahlkämpfe sind teuer, deshalb versuchen Parteien gerne zu sparen. Eine Möglichkeit besteht darin, Wahlkampf auf Kosten anderer zu machen. Besonders billig ist es, Wahlkampf auf Kosten von Erwerbslosen und Geringverdiener/innen zu machen. Die Kleinpartei FDP, die um ihr parlamentarisches Überleben kämpft, geht der Konkurrenz voran – in der leider nicht unbegründeten Hoffnung, dass auch andere Parteien und viele Wähler/innen es für angemessen halten, kräftig nach unten zu treten.
In seinem Abschiedsbrief an die Ampelkoalition erklärte der Parteivorsitzende und Ex-Finanzminister Christian Lindner, dass „die Bürgergeld-Regelsätze über dem Bedarf“ liegen würden, die Kosten der Unterkunft zu großzügig übernommen werden und das System daher „reformiert“ werden solle: „Individuelle Schlechterstellungen gegenüber dem Status quo sind dabei unvermeidlich, aber im Sinne von Aktivierung und Anreizorientierung auch zu begrüßen.“ (Wirtschaftswende Deutschland – Konzept für Wachstum und Generationengerechtigkeit, Bundesfinanzministerium, Oktober 2024).
Woher der besserverdienende Minister seine Kenntnis einer bedarfsgerechten Grundsicherung nahm, ist unbekannt. Andernorts stehen die zuständigen Stellen eher ratlos vor der Frage, welche Sozialleistungen denn nun angemessen wären. Eindrucksvolles Material dazu liefern die Verfahren vor Sozialgerichten in Berlin – obwohl selbstverständlich die meisten Konflikte um Regelleistungen und Kosten der Unterkunft nie vor Gericht landen, weil es den Betroffenen an Mitteln und Unterstützung fehlt, um ihre Rechte einzuklagen und Jahre auf eine Entscheidung zu warten. Doch die veröffentlichten Entscheidungen sind deutlich genug. Sie zeigen zum Beispiel, dass es der Sozialverwaltung an einem schlüssigen Konzept für angemessene Kosten der Unterkunft (KdU) seit Jahren fehlt.
Gerichte bemängeln Berechnungsgrundlage
Wiederholt stellten die Gerichte fest, dass weder die Wohnungsaufwendungenverordnung, noch ihre Nachfolger (AV Wohnen) ab Sommer 2015 eine valide rechtliche Grundlage haben. Insbesondere die Verfügbarkeit des offiziell definierten „angemessenen Wohnraums“ konnte nicht nachgewiesen werden. Trotzdem wird an den unzureichenden Richtsätzen festgehalten. Die Wohnkostenlücke, also der Unterschied zwischen den tatsächlichen und den amtlich anerkannten Kosten der Unterkunft, ist über die Jahre daher nicht kleiner geworden. Sie ist in das System der AV Wohnen eingebaut. Nur sind Hartz-IV und das Bürgergeld nicht so angelegt, dass da noch Reserven wären. So führt die Wohnkostenlücke nicht nur zu einer verfassungswidrigen Einschränkung der Lebenshaltung der Betroffenen. Sie führt auch regelmäßig zu Mietschulden und immer wieder zu Wohnungsverlust und Wohnungslosigkeit.
Am 23. Juli 2024 hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg über einen Rechtsstreit entschieden, der sich auf die Kosten der Unterkunft und die Heizung für einen Betroffenen im Zeitraum Juli 2015 bis Juni 2016 bezog. Das Jobcenter stützte sich in seiner Position auf ein Rundschreiben der Senatsverwaltung für Soziales vom September 2023. Um nachzuweisen, dass für die Richtwerte der AV Wohnen tatsächlich Wohnungen angemietet werden können, berechnete die Verwaltung zunächst aufgrund des Mikrozensus den Anteil von Haushalten mit geringem Einkommen an allen Haushalten. Das Ergebnis: 30% aller Berliner Haushalte, aber 40% aller Ein-Personenhaushalte entfallen auf Geringverdiener. Diese Zahlen für das Jahr 2018 vergleicht die Verwaltung mit Angaben zur Neuvermietung in den ersten neun Monaten des gleichen Jahres, die sie aus der Mietspiegelerhebung errechnet hat: Von 51.565 Neuvermietungen lagen immerhin 22.191 unter den Richtsätzen der AV Wohnen. Das sind 43% – und damit mehr als der Anteil der Geringverdiener an allen Berliner Haushalten. Im Falle der Ein-Personenhaushalte lagen sogar 58% unter den Richtsätzen! Damit war für die Senatsverwaltung und das Jobcenter alles in Ordnung.
Nicht aber für das Gericht: „Der Verfügbarkeitsnachweis kann nicht durch Berechnungen geführt werden, wonach Leistungsberechtigte im angespannten Mietmarkt die gleichen statistischen Chancen auf wenige verfügbare Wohnungen wie ihre Nachfragekonkurrenten haben.“ Tatsächlich kommt weder die Zahl der Leistungsberechtigten in der Betrachtung der Senatsverwaltung vor, noch die Zahl der Bedarfsgemeinschaften, die aus ihrem Regelsatz zu den Wohnkosten zuzahlen müssen. Beide Zahlen sind kein Geheimnis. In der Statistik der Bundesagentur für Arbeit finden sich Monatszahlen zur Wohn- und Kostensituation für den Bund, die Bundesländer und die einzelnen Jobcenter. Und die Bundestagsfraktion der LINKEN hat regelmäßig Angaben zur Wohnkostenlücke von der Bundesregierung abgefragt. Im Jahr 2018 gab es in Berlin 272.261 Bedarfsgemeinschaften, davon 245.499 in der Unterkunftsart Miete. Von ihnen zahlten 31.235 zu den Wohnkosten dazu, im Durchschnitt 1.620 Euro pro Jahr.
Wenn tatsächlich alle Neuvermietungen zu den „angemessenen Richtsätzen“ an die Bedarfsgemeinschaften mit zu hohen Unterkunftskosten gegangen wären, dann hätte es nur etwa 13 Monate gedauert, bis alle eine neue Bleibe gefunden hätten. Tatsächlich gehen aber auch billigere Wohnungen nicht nur an Leistungsempfänger. Die Einschätzung des Gerichts, dass keinesfalls ausreichend „angemessene Wohnungen“ verfügbar waren, ist gut begründet. Es wies den Antrag des Jobcenters auf Abweisung der Klage zurück. Stattdessen wurden dem Betroffenen erhöhte Leistungen, aber nicht in der Höhe der tatsächlichen Unterkunftskosten, zugesprochen. (In seiner Entscheidung orientierte sich das Gericht hilfsweise an den Werten in § 12 Wohngeldgesetz.)
Anpassung der Richtwerte nicht in Sicht
Warum blamiert sich die Verwaltung vor Gericht mit einer Berechnung, die keinen Bestand hat? Sicherlich beherrschen die zuständigen Kolleg/innen alle vier Grundrechenarten, und mehr brauchte es nicht, die Fehler zu finden. Leider beherrschen sie aber noch eine weitere Rechenart, die der Autor Christoph Hein einmal so beschrieben hat: „Die fünfte Grundrechenart besteht darin, dass zuerst der Schlußstrich gezogen und das erforderliche und gewünschte Ergebnis darunter geschrieben wird. Das gibt dann einen festen Halt für die waghalsigen Operationen, die anschließend und über dem Schlußstrich erfolgen.“ Das Ergebnis unter dem Schlußstrich sind die Richtsätze der AV Wohnen. Sie basieren nicht auf einer Untersuchung des Berliner Wohnungsmarktes. Sie sind vielmehr das Ergebnis der internen Verhandlungen zwischen dem Land Berlin und dem Bund, der inzwischen 65% der KdU für Grundsicherungsempfänger/innen im SGB II-Bereich trägt. Die Verwaltungsvereinbarungen zu diesem Thema, die es geben muss, hat kein Mitglied des Abgeordnetenhauses je zu sehen bekommen. Die Sozialsenator/innen egal welcher Partei – ob Die Linke, CDU oder SPD – sind einem offenen Konflikt mit dem Bund immer aus dem Weg gegangen.
Die einfache Schlussfolgerung, dass in einem angespannten Wohnungsmarkt die tatsächlichen Kosten der Unterkunft zu erstatten sind, wird schwer durchzusetzen sein. Erwerbslose und Geringverdiener/innen haben keine Lobby. Tatsächlich wird sich die Wohnkostenfrage in den nächsten Monaten zuspitzen. Ab dem 1. Januar 2023 galt für Neubeginner im Leistungsbezug die Karenzzeit, d. h. für 12 Monate wurden die tatsächlichen Unterkunftskosten übernommen. Offen waren nur Altfälle aus der Zeit bis Ende 2022. Nun läuft diese Frist für immer mehr Bedarfsgemeinschaften aus und die Jobcenter bereiten Kostensenkungsverfahren vor. Zudem liegt seit Ende Mai der neue Mietspiegel vor, der zu Mieterhöhungen durch die Vermieter führt. Eine entsprechende Anpassung der Richtwerte der AV Wohnen ist bisher nicht in Sicht. Im Gegenteil: Weit über die FDP hinaus bewegen sich die Parteien auf weitere Einschränkungen zu. Mit dem Versprechen, Steuergelder zu sparen, wollen sie Wähler/innen gewinnen. Beim Gedanken an die Schwächsten fragen sie sich zuerst, ob die überhaupt wählen dürfen und wählen gehen. Vor 20 Jahren konnten die Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV den Sozialabbau nicht verhindern. An den Folgen tragen wir bis heute.
Der Autor bedankt sich bei Michael Breitkopf für Informationen und Kritik. Der Autor ist seit September 2024 Herausgeber der Zeitschrift lunapark21; Heft 63 ist gerade erschienen.
MieterEcho 446 / Dezember 2024