In Zeiten des untergehenden Städtebaus
Die Berliner Mitte im Würgegriff der Bodenverwertung
Von Karin Baumert
Was spricht eigentlich dagegen, dass sich die Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt unter Leitung des Stadtentwicklungssenators Christian Gaebler (SPD) für eine kleinteilige und an historischen Vorbildern orientierte Stadtplanung am Molkenmarkt starkmacht? Haben wir nicht alle Sehnsucht nach in menschlichem Maß gebauten Orten? Wollen wir nicht einfach einen Bummel durch die Geschichte machen, irgendwo dann rüber gehen in ein Straßencafé und dabei all die Leute beobachten, die hier lang flanieren? Haben wir nicht geradezu ein Bedürfnis nach den Wurzeln unserer Geschichte, ohne ein Lehrbuch in die Hand nehmen zu müssen? Es könnte so schön werden, wenn man Frau Kahlfeldt und ihre ganze Entourage einfach mal machen ließe. Was soll denn diese ewige Stänkerei von links?
Natürlich haben wir bei dieser Sehnsucht auch ein ungutes Gefühl. Denn alle Versuche, die Geschichte wieder auferstehen zu lassen, enden in Kitsch und Streiterei. Wessen Schloss ist der Baukörper, der ein Schloss sein will und an Stelle des Palastes der Republik getreten ist? Ist die Inschrift hoch oben auf dem Turm der Schlossattrappe wirklich so gar nicht reaktionär? Und warum flanieren wir nicht an den Townhouses neben dem Außenministerium, um unsere Sehnsucht zu stillen? Hatte der damalige Senatsbaudirektor Hans Stimmann diese in den 90er Jahren nicht als das Paradebeispiel des Planwerkes Innenstadt angepriesen?
Das Planwerk Innenstadt gab vor, die sozialistische Stadtmitte Ostberlins „heilen“ zu wollen. Im Votum der Nutzer/innen – in ihrer Abstimmung mit den Füßen – gibt es aber gar nichts zu „heilen“. Der große Freiraum am Fernsehturm, diese städtebauliche Spange mit den Wasserspielen, dem Neptunbrunnen, mit gelegentlichen Kundgebungen und dem Weihnachtsmarkt, wird zu allen Tages- und Nachtzeiten umflutet von Besucher/innen. Darum wagen wir einen Blick hinter die Fassaden des aktuellen städtebaulichen Streites um die Ostberliner Mitte.
Bilder statt Tatsachen
Als 1989 die Mauer fiel, präsentierten sich zwei Zentren Berlins – der Kurfürstendamm und der Alexanderplatz – und nahmen ihren Wettstreit um die Deutungshoheit der Geschichte über die städtebaulichen Debatten wieder auf. Schon in den 50er Jahren konkurrierte die Karl-Marx-Allee mit dem Hansaviertel. Heute tobt der Kampf der Marktwirtschaft gegen die Planwirtschaft. Mit dem Einigungsvertrag war diese Akteurs-ebene der Stadtentwicklung bereits entschieden. Der Anteil des kommunalen Eigentums der DDR, der damals mit den Niederlanden und Schweden vergleichbar war, wurde durch die Rückübertragung alter Eigentumsverhältnisse abgewickelt.
Die ideologischen Bilder der Bürgerstadt in Form des Planwerkes Innenstadt wurden zum ästhetischen Dauerstreit. Die Mieter/innen in den Wohngebieten im Ostberliner Zentrum, die sich das Wohnen dort auch in Zukunft noch leisten wollten, diskutierten in Stadtteilkonferenzen gegen die Nachverdichtung des Planwerkes. Aber der Feldzug der Bilder war nicht aufzuhalten. Sie feierten bei der Architekturbiennale in Venedig ihren internationalen Erfolg. Bauherren brachten sich angesichts der zu erwartenden Rendite schon mal in Stellung.
Seit den 1990er Jahren sind die gestaltenden Instrumente im Städtebau aufgegeben worden. In Ostberlin wurden die Errungenschaften der behutsamen Stadterneuerung Westberlins zunächst in vereinfachter Form als Mietbegrenzung genutzt – und als Steuerersparnis für die Eigentümer. Doch nach der Entlassung der Sanierungsgebiete schlug der Markt zu. Städtebauliche Instrumente wie die Bürgerbeteiligung im Sanierungsrecht sind in den 70er Jahren von den zahlreichen Bürgerinitiativen in der Bundesrepublik angesichts der Funktionsflächensanierung westdeutscher Städte erkämpft worden. Der Milieuschutz, ehemals gegen Fehlinvestitionen der Kommune eingeführt, ist heute ein stumpfes Schwert gegen die Verdrängung. Der Berliner Mietendeckel als staatliche Regulierung gegen steigende Mieten ist längst von den Gerichten kassiert.
Die Debatten um das Planwerk Innenstadt waren Debatten um Bilder und nicht um Tatsachen, wie etwa die Nachverdichtung. Kein Gutachten gegen den ökologischen Wahnsinn der Nachverdichtung und gegen die Verdrängung durch steigende Mieten konnte diesen Kampf der Bilder stören. Der Abriss des Palastes der Republik war da nur einer der vielen traurigen Höhepunkte der Stadtentwicklung. Die Mehrheit der Berliner/innen wollte den Abriss nicht. „Warum etwas Altes abreißen, um etwas noch Älteres wieder aufzubauen?“ war einer der Slogans der großen Bewegung gegen den Abriss des Palastes.
Der Kampf wurde auf vielen Ebenen geführt – mit Installationen wie dem riesigen Schriftzug „Zweifel“, zahlreichen Zwischennutzungen oder Architekturdebatten. Nach der Asbestsanierung stand ein funktionaler Bau in der Mitte der Stadt. Aber die Spender für den Aufbau des vermeintlichen Schlosses sammelten bereits fleißig und beharrlich und hatten den Segen der Mächtigen im Gepäck. Stadtentwicklung in der Ostberliner Mitte ist Klassenkampf.
Für den neoliberalen Kapitalismus, der für die Mehrheit der Menschen keine Zukunft plant, kann der immanente Zwang zur Verwertung von Grund und Boden jedes Bild bemühen. Das Planwerk wurde zur materiellen Gewalt. Darum verwundert es nicht, dass seitdem weiter abgerissen und neu gebaut wird. Ob das die Einkaufsmall Alexa, die eine Stadt simuliert und dem Konsum frönt, oder die Realisierung des Planwerkes am Eingang der Fischerinsel ist. Die Verwertung der Grundstücke hat mit den Bildern der Debatten dann nichts mehr zu tun. Der Fischerinsel wurde mit dem Abriss des Ahornblattes sein identitätsstiftendes Denkmal genommen, und an seine Stelle wurde dann die Baumasse des Planwerkes realisiert. Dadurch wurde die ganze Fischerinsel zum Hinterhof einer einfachsten Architektur, die keine Einbindung mehr hat und jede Stadtplanung vermissen lässt. So kommt es, dass eine Sehnsucht nach alter Stadt, die die Bilder der Stadtplanung simulieren, am Ende zu Stadträumen führt, die man einfach nur schnell durchfahren möchte.
Romantisierung der „alten Stadt“
Natürlich sind auch die Bilder der Altstadt Ausdruck von Interessen. Niemand sieht die alten Städte in ihrer ganzen Wahrheit. Sie waren dreckig und überbevölkert, voller Epidemien und Brände und stanken zum Himmel. Wenn tief unten am Molkenmarkt die über 800 Jahre alte Holzstraße bei Ausgrabungen zu Tage kommt und bewundert werden kann, denkt niemand an den Gestank, sondern sieht gut abgelagerte Holzbohlen für einen Tisch in seinem Loft. Seit dem Planwerk Innenstadt folgen die Bilder einer bestimmten Auffassung von Stadt und Stadtplanung, die ein bürgerliches Leben simuliert zum Zwecke der Vermarktung der Grundstücke.
Und im Hintergrund spielt die Musik der Ideologie „wer sich gute Wohn- und Lebensbedingungen nicht leisten kann, ist doch wohl selber schuld“. Und darum ist dann diese kuschelige, menschelnde Maßstäblichkeit in Ermangelung gesellschaftlicher Utopien und kollektiver Erfahrungen auch ein Ergebnis von Hyperindividualisierung. Im Kapitalismus, der durch Ausbeutung, Konkurrenz und Kriege gekennzeichnet ist, kann das Individuum zunächst einmal nicht wirklich solidarisch sein.
Die Klasse, die dafür verantwortlich ist, lässt die eigenen Steuern abfließen, hat kein Interesse, soziale Probleme zu regulieren, kommt nicht für die Folgen ihrer Politik auf und setzt die Verwahrlosung mit auf die Agenda der „zu beseitigenden Phänomene“. Stadt im Kapitalismus wird weder nachhaltig noch sozial noch ökologisch sein. Jede Städtebaudebatte, jeder städtische Kampf muss sich dieser Wahrheit stellen. Vorbei die Zeiten der „Good Governance“.
Der Kampf um die Stadtmitte ist kein Kampf um Bilder, sondern um menschenwürdige Städte. Diese brauchen die Stadtplanung, um die vielen Initiativen des Gärtnerns auf Parkplätzen, der Kämpfe um bezahlbaren Wohnraum und der ökologischen Neugestaltung ganzer Viertel zu ermöglichen. Stadtplanung ist die Abwägung unterschiedlichster Interessen im Auftrage einer Stadtgesellschaft, die diese Stadt bewohnt und besucht. Am Molkenmarkt ist man bereits am Start. Den Entwurf für ein sozial-ökologisches Quartier haben OS arkitekter und czyborra klingbeil architekturwerkstatt bereits vorgelegt. Nun beginnt wieder der Kampf der Bilder. Die Senatsbaudirektorin will die Realisierung des Entwurfs mit einem Gestaltungshandbuch kippen. Der Sommer wird heiß. Denn die Akteure vor Ort kämpfen um ihre Zukunft.
Karin Baumert ist Stadtsoziologin und politische Aktivistin.
MieterEcho 443 / August 2024