Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 440 / Mai 2024

Im Schatten des Amazon-Towers

Der Bau von Bürohäusern in Friedrichshain geht immer weiter

Von Nicolas Šustr

„Es ist alles eingetreten, was die Initiative ‚Mediaspree versenken‘ vor fast 20 Jahren prophezeit hat“, sagt Jenny Goldberg vom Stadtteilbüro Friedrichshain. Wenn sie vor den Kieztreff in dem kleinen Ladenlokal in der Warschauer Straße tritt, kann sie den Edge-Tower sehen. Mit 142 Metern ist der Turm derzeit das höchste Haus Berlins. Der Innenausbau ist im Gange, bis Jahresende sollen die rund 3.400 Beschäftigten des Hauptmieters einziehen, unter dessen Namen der Wolkenkratzer bekannt ist: Amazon-Tower.   

Eigentlich hätte der Turm nur 100 Meter hoch werden sollen. Denn im Nachgang des mit 87% Zustimmung erfolgreichen bezirklichen Bürgerentscheids „Spreeufer für alle“ hatte der Bezirk in Verhandlungen mit den damaligen Grundstückseigentümern die Höhenreduzierung erreicht. Doch nach mehreren Verkäufen sahen sich die aktuellen Eigentümer nicht mehr an die Vereinbarung gebunden – und waren es offenbar juristisch auch nicht mehr. Der Bürgerentscheid verlangte eigentlich, dass keine Gebäude über die Berliner Traufhöhe von 22 Metern ragen sollten.

„Viele politisch Verantwortliche hatten ja damals gesagt: So schlimm wird das schon nicht“, erinnert sich Jenny Goldberg. Doch „zwischen Eisenbahn und Spree ist von Ostbahnhof bis Ostkreuz ein riesiger Gewerbe- und Investorenriegel entstanden, den die Bewohner/innen auf dem Weg zwischen Friedrichshain und Kreuzberg möglichst schnell passieren wollen“, sagt sie. Luxusbüros für Konzerne und kapitalstarke Start-ups, Luxuswohnungen, Hotels, ein Shoppingcenter und eine riesige Mehrzweckhalle, die „Uber Entertainment Area“, die seit ihrer Eröffnung nun schon ihren dritten Namen trägt.

Kern der Entwicklung ist das sogenannte Anschutz-Areal auf der Fläche des ehemaligen Ostgüterbahnhofs. Dort hat der Modehändler Zalando in den vergangenen Jahren seine Beschäftigten in einer Konzernzentrale zusammengezogen. Zuvor waren sie über verschiedene Standorte im Bezirk verteilt. Seit Jahren stehen infolge der Konzentration 25.000 qm des ehemaligen Standorts in der Neuen Bahnhofstraße nahe dem Ostkreuz leer.

Bodenrichtwerte sind explodiert

Mit der Entwicklung der ehemaligen Bahnfläche zwischen Ostbahnhof und Warschauer Straße dürfte der US-amerikanische Investor Anschutz einen außerordentlich guten Schnitt gemacht haben. Seit dem Kauf der Fläche im Jahr 2001 hat sich den Bodenwert laut Bodenrichtwertatlas auf das 110-fache hochgeschraubt. Mit 11.000 Euro/qm liegt der immobilienwirtschaftliche Wert der ehemaligen Brache nicht weit weg von den 12.000 Euro, die rund um den Potsdamer Platz angesetzt sind. „Das hat auch eine krasse Wirkung in den gewachsenen Stadtteil rein“, sagt Jenny Goldberg und verweist auf die Verdrängung durch massiv steigende Mieten für Wohnungen und Gewerbe. „Die Eigentümer drumherum wollen eben auch etwas vom Kuchen abhaben“, erklärt sie und nennt als aktuelles Beispiel die Kurth-Gruppe auf dem RAW-Gelände. „Die will sich den Erhalt eines Teils der gewachsenen soziokulturellen Angebote mit Baurecht in hoher Dichte vergolden lassen. Direkt an die Warschauer Straße will man dort noch einen Büroturm setzen“, erläutert Goldberg.

Rund zwei Drittel des Geländes des ehemaligen Reichsbahn-Ausbesserungswerks an Warschauer und Revaler Straße gehören dem Göttinger Immobilienentwickler Kurth. Es ist einer der aktuellen Kampfplätze der Stadtentwicklung im Bezirk. 2019 fasste die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Friedrichshain-Kreuzberg den Aufstellungsbeschluss für den Bebauungsplan des Kurth-Areals. Das galt als Bedingung der Investoren für den Erhalt des sogenannten „soziokulturellen L“.

Clubs, Kneipen, Sportanlagen wie die Skatehalle und der Kletterkegel, Ateliers und Werkstätten finden sich dort. Müssten sie dort weg, fände der Großteil angesichts der Mietenentwicklung keine leistbare Alternative mehr. 

Erkauft werden soll der Erhalt soziokultureller Kiez-Infrastruktur durch eine hohe Baumasse für die Gewerbe-Neubauten, die die denkmalgeschützten Gebäude einmal umgeben sollen: rund 150.000 qm Geschossfläche für ein rund 52.000 qm großes Areal. Um das unterzubringen, muss auch ein bis zu 100 Meter hohes Haus an der Kante zur Bahn und zur Warschauer Straße untergebracht werden. Wie üblich in der Entwicklerbranche, wird eine Torsituation mit dem schräg gegenüberliegenden Amazon-Tower herbeisimuliert.

Rund 500 Euro/qm soll die Kurth-Gruppe 2015 bei Ankauf des Geländes gezahlt haben. Bereits jetzt weist der Bodenrichtwertatlas dort einen Quadratmeterpreis von 4.500 Euro aus. Mit dem im B-Plan in Aussicht gestellten Baurecht sollte der Bodenwert locker noch weiter um mindestens die Hälfte steigen können. Kritiker sagen, dass die Investoren auch mit einer wesentlich geringeren Baumasse einen sehr guten Schnitt machen würden. Doch der Investor hat ebenfalls ein Drohpotenzial. Er könnte die Mieter des soziokulturellen L auch vor die Tür setzen und in geringerer Dichte bauen, als der Bebauungsplan vorsieht – und würde trotzdem mit einem dicken Plus verkaufen können.

Etwas unter die Räder sind die Mieter/innen jetzt schon gekommen. Denn derzeit müssen sie sich mit kurzlaufenden Verträgen durchschlagen, die Mieten sind auch angehoben worden. Dem Vernehmen nach teilweise auf ein Niveau, das manche sich schon jetzt nicht mehr leisten können. Die BVV forderte daher das Bezirksamt im Februar 2024 zum wiederholten Male auf, einen langfristigen Generalmietvertrag auszuhandeln. Es machte auf die Bezirksverordneten den Eindruck, dass das bisher nicht mit dem nötigen Druck vorangetrieben worden ist. Als Generalmieter stünde die über eine Stiftung an die Senatskulturverwaltung angedockte „Kulturraum Berlin gGmbH“ zur Verfügung. Im ersten Quartal 2024, wie zuletzt angekündigt, hat der Abschluss des Mietvertrags nicht geklappt. Doch Beteiligte waren zuversichtlich, dass der Vertrag kurz nach Redaktionsschluss der vorliegenden MieterEcho-Ausgabe geschlossen sein könnte.

Offenbar als Gegenleistung für die Kurth-Gruppe hat Baustadtrat Florian Schmidt (Bündnis 90/Die Grünen) angekündigt, das Bebauungsplanverfahren so zu beschleunigen, dass bis zu den Berliner Wahlen auf Landes- und Bezirksebene im Herbst 2026 Baurecht vorliegt. Ob das angesichts des sehr umstrittenen Bauvorhabens realistisch ist, wird sich noch zeigen. Immerhin muss eine Mehrheit in der BVV das beschließen. Ursprünglich war für den Abschluss des Bebauungsplanverfahrens 2022 avisiert.

Hoffen auf neue Protestwelle

Jenny Goldberg ist mit dem Stadtteilbüro Friedrichshain mitten im Geschehen. „Wir sind seit mehr als zehn Jahren eine Anlaufstelle für engagierte Stadtteilbewohner/innen. Initiativen können unseren Raum ohne Konsumzwang nutzen“, sagt sie. Außerdem gibt es regelmäßige Präsenzzeiten, wo einfach die Leute von nebenan vorbeischauen und beispielsweise fragen können: Was wird da eigentlich gerade gebaut?

Manche Projekte bekommen wenig Aufmerksamkeit, wie der Bürokomplex Edge Friedrichspark zwischen Ostbahnhof und Berghain, der bereits in zwei Jahren fertig sein soll. Alles technologisch und ökologisch auf dem neuesten Stand – und dementsprechend hochpreisig. Das soll der Startschuss für die Aufwertung der Gegend um die Straße der Pariser Kommune sein. Aber „Berlin braucht leistbaren Wohnraum und soziokulturelle Infrastruktur – nicht noch mehr Bürofläche. Selbst rund um das Mediaspree-Areal soll es viele Leerstände geben“, kritisiert Jenny Goldberg. Am sogenannten Rudolfband versucht der Bezirk jetzt, mit drei Bebauungsplänen auf den noch nicht der Höchstpreisverwertung anheim gefallenen Flächen direkt südlich der Bahn zwischen Warschauer Straße und Ostkreuz die Mischung aus Wohnen, Arbeiten, Kultur und sozialer Infrastruktur zu sichern.

„Es gibt Widerstand und Protest gegen den Amazon-Tower, gegen die Pläne für das RAW-Gelände, gegen Pandion im Laskerkiez. Aber die große Welle, in der sich größere Teile der Kiezbewohner/innen zusammentun, das ist zuletzt bei Mediaspree versenken gelungen“, sagt Jenny Goldberg. „Ich wünschte mir, es gäbe diese eine Zutat, mit der wir das einmal zornig auf die Straße bringen könnten. Der Wille und die Kraft sind da, aber irgendwas fehlt, um uns wirklich zusammenführen zu können.“

Es gebe kein schönes Leben im Schatten des Amazon-Towers, und „was wir im Moment schon als Verdrängungsprozess erlebt haben, ist nichts gegen das, was wir zu erwarten haben, wenn 3.500 Amazon-Mitarbeitende den Turm beziehen“ befürchtet sie – und wird noch einmal kämpferisch: „Amazon darf nicht einziehen!“ 


MieterEcho 440 / Mai 2024

Teaserspalte

Berliner MieterGemeinschaft e.V.
Möckernstraße 92
10963 Berlin

Tel.: 030 - 21 00 25 84
Fax: 030 - 216 85 15

Email: me(at)bmgev.de

Ferienwohnungen

Unsere Umfrage

Falls sich eine oder mehrere Ferienwohnung(en) in Ihrem Haus befinden, berichten Sie uns davon und schildern Sie Ihre Erfahrungen in unserer Online-Umfrage.