Höchste Zeit für eine Notbremsung
Bei der teilprivatisierten „Schulbauoffensive“ des Senats laufen die Kosten aus dem Ruder
Von Carl Waßmuth
Schulen können Orte der Zukunft sein. Kaum etwas reduziert ein späteres Armutsrisiko von Kindern so sehr, wie eine gute Schulbildung. Werden Schulen hingegen vernachlässigt, fällt ständig Unterricht aus und sind die Klassen überfüllt, verstärkt das soziale Ungleichheit. Vorausschauende Politik schafft rechtzeitig die personellen und baulichen Voraussetzungen und verhindert, dass ganze Generationen abgehängt werden.
Doch die Schulpolitik der letzten dreißig Jahre war in Berlin das Gegenteil von vorausschauend. Nach der Wiedervereinigung gingen die Geburtenzahlen in den neuen Bundesländern und in Ostberlin zunächst zurück, und bald danach auch die Schülerzahlen. Vieles sprach aber dafür, dass die meisten jungen Frauen aus dem Osten nicht dauerhaft kinderlos bleiben würden. Die Berliner Politik unter Klaus Wowereit und Thilo Sarrazin (beide SPD) zerstörte jedoch in Windeseile nicht mehr genutzte Schulen oder verkaufte die Gebäude. Ab 2013 stiegen die Schülerzahlen dann wieder stark an – aber es gab keinen Platz mehr für die Kinder.
Dieser Politikfehler hat einen langen Schatten. Berlin benötigte schnell neue Schulen, und gleichzeitig mussten die ca. 800 bestehenden, aber stark vernachlässigten Schulgebäude saniert werden. Man hatte aber kaum noch Fachpersonal, um diese Aufgabe zu bewältigen. Und das benötigte Geld war zum Teil gebunden, für den BER und die Abbezahlung von Schulden aus dem Bankenskandal und dem Rückkauf der Wasserbetriebe. Solche Situationen lieben große Kapitalanleger: Sie bieten sich dann an, dem Staat aus der Patsche zu helfen – gegen viel neues Geld.
Schulen sind allerdings aus gutem Grund (noch) nicht als Kapitalanlage strukturiert. Banken und Versicherer sahen das schon vor zehn Jahren als ein Problem an. Sie kritisierten Hürden bei der Kapitalanlage in die öffentliche Daseinsvorsorge und wurden beim damaligen Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel vorstellig. Gabriel beauftragte eine große Studie. Seine Berater, darunter PricewaterhouseCoopers (Pwc), kamen zu dem Ergebnis, dass für die private Geldanlage ein „Intermediär“ benötigt werde – eine staatseigene, aber privatwirtschaftliche Firma, die Infrastrukturprojekte im Sinne der Anleger strukturiert: „Im Bereich der steuerfinanzierten Infrastruktur gibt es (…) in den Stadtstaaten Berlin und Hamburg die Tendenz, eine Aufgabenteilung im Sinne des ÖPP-Gedankens unter Einbindung öffentlicher Partner umzusetzen (z. B. Einbindung örtlicher Wohnungsbaugesellschaften), die anstelle eines privaten Partners Finanzierungs- und Managementaufgaben übernehmen.“ ÖPP ist die Abkürzung von Öffentlich-Privaten Partnerschaften, es ist eine Form von Privatisierung.
Horrende Mietkosten für den Senat
Was hat das mit Berlin zu tun? Im Jahr 2014 wechselte Matthias Kollatz von Pwc ins Amt des Berliner Finanzsenators. Zwei Jahre später schlugen SPD und Linke das Pwc-Modell für den Schulbau vor. Sie nannten es „Berliner Schulbauoffensive“ (BSO) und wollten damit die Schuldenbremse umgehen. Ein Jahr später wählte Kollatz die Howoge als staatlichen ÖPP-Intermediär aus. Das Howoge-Management beauftragte sofort Bernward Kulle von der ÖPP Deutschland AG als Berater. Eine großangelegte Privatisierung begann, in der die Akteure das Wort Privatisierung unbedingt vermeiden wollten.
Die Vorgänge blieben dennoch nicht unbemerkt. Der Verein Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB e.V.) kannte das Pwc-Gutachten und startete eine Volksinitiative gegen das Privatisierungsvorhaben. In zahlreichen Artikeln, Interviews und Studien klärte GiB über die Risiken auf. Viele Ehrenamtliche sammelten über 30.000 Unterschriften, so dass sie Ende 2018 im Abgeordnetenhaus angehört werden mussten. Kritik war dort allerdings nicht willkommen. Rot-Rot-Grün wollte von dem Vorhaben keinen Jota weit abrücken und beschloss, dass die Howoge für eine Milliarde Euro 25 Schulen neu bauen und 14 Großsanierungen vornehmen sollte, mit insgesamt 28.172 Schulplätzen.
Acht Jahre nach Erfindung der BSO wurde von 39 Howoge-Schulen kein einziger Schulplatz der Öffentlichkeit übergeben, erst fünf Schulen sind in Bau. Sie sollen 2026 fertig werden, alle anderen ca. 2030. Diese Verzögerung kann nicht durch generelle Engpässe in der Bauwirtschaft erklärt werden. Die öffentlichen Berliner Bauverwaltungen haben nämlich gleichzeitig 40.000 Schulplätze gebaut. Und wie eine Anfrage der CDU vom 2. August 2022 ergeben hatte, kosteten die ersten 25.000 Schulplätze weniger als eine Milliarde Euro und lagen damit preislich unter dem Bundesdurchschnitt.
Der Schulbau durch die Howoge kommt Berlin hingegen zehnmal teurer. Inklusive Zinsen kosten 28.210 Howoge-Schulplätze 11,7 Milliarden Euro. Damit handelt es sich um die deutschlandweit größte Kostenexplosion in einem Infrastrukturprojekt seit 20 Jahren. Die Kostensteigerungen übertreffen sogar Stuttgart 21 und den Flughafen BER. Und das sind nur die vor Fertigstellung bekannten Steigerungen, weitere Mehrkosten sind wahrscheinlich. Schließlich trägt die Howoge durch vertragliche Zusicherungen kein eigenes Risiko. Die Wohnungsbaugesellschaft darf anfallende Kosten einfach durchreichen.
Summen in Milliardenhöhe entziehen sich der Vorstellungskraft. Diesen Effekt machen sich Regierungen oft zunutze. Im Berliner Schulbau fallen die milliardenhohen Mehrkosten auf dem Wege von Mietzahlungen an: Die Bezirke müssen die Schulen zurückmieten, die Miethöhe bestimmt die Howoge. Wohnungsbau und Schulbau sind eng verwandt. Auf eine Anfrage des Abgeordneten Alexander King (BSW) gab der Senat an, dass er für seine Kostenschätzungen im Schulbau das Baupreissegment „Wohnungsbau“ anwendet. Die Miete, die die Bezirke pro Quadratmeter für die Schulen künftig bezahlen, müssten somit etwa Wohnungsmieten entsprechen. Während dort jedoch 6,50 bis 15 Euro pro Quadratmeter zu bezahlen sind, werden bei der Howoge im Durchschnitt 115 Euro pro Quadratmeter anfallen. Die Howoge verteidigt die hohen Kosten, indem sie angibt, enorm hochwertige Schulen zu bauen. Aber selbst wenn das stimmt, bekommt Berlin Schulen im Gegenwert von 1,5 Milliarden Euro, bezahlt aber eben 11,7 Milliarden Euro.
Bedarfsplanung nicht mehr aktuell
Die große Welle der steigenden Schülerzahlen in Berlin geht derzeit zurück, auch wenn es sich in übervollen Klassen und Schulen noch völlig anders anfühlt. In Kreuzberg werden bereits Schulschließungen geprüft. Die beliebte Reinhardswaldschule soll sogar abgerissen werden. Ab 2030 geht der Bedarf an Schulplätzen berlinweit voraussichtlich insgesamt zurück. Der Howoge-Schulbau ist also nicht nur um Faktor zehn zu teuer, er wird auch gar nicht mehr benötigt. Statt Grundschulen abzureißen und Oberschulen neu zu bauen, müssten Grundschulgebäude für eine Nutzung durch weiterführende Schulen ertüchtigt werden.
Neben Matthias Kollatz haben die Senator/innen Michael Müller, Franziska Giffey, Sandra Scheeres, Katrin Lompscher, Sebastian Scheel, Daniel Wesener, Astrid-Sabine Busse und Andreas Geisel im Senat aktiv den Howoge-Kostenskandal vorangetrieben. Jede/r Einzelne der Genannten hatte Kenntnis der Kosten und hätte das Projekt anhalten können und müssen. Dasselbe gilt für die aktuell Verantwortlichen: Kai Wegner, Stefan Evers, Katharina Günther-Wünsch und Christian Gaebler könnten Berlin zehn Milliarden Euro unnötiger Ausgaben ersparen. Aktuell hat der Senat aber gerade erst ein neues ÖPP-Gutachten beauftragt.
Dabei sind die enormen Mehrkosten des aktuellen ÖPP-Vorhabens bereits öffentlich bekannt. Zum Glück ist ein Großteil der Kosten noch nicht angefallen. Und die Howoge ist eine 100-prozentige Tochter von des Landes Berlin. Sie muss umsetzen, was Berlin als Eigentümer sagt. Alle Verträge zum Schulbau sollten aufgehoben und die Planungen ans Land übergeben werden. Den knapp zwei Dutzend Howoge-Beschäftigten im Bereich Schulbau kann angeboten werden, dass sie ihre Tätigkeit im öffentlichen Dienst fortführen können. Die im Bau befindlichen fünf Schulen können fertiggestellt werden, alles andere sollte Berlin aber wieder selbst machen. Dass die Berliner Bauverwaltungen Schulen schnell und kostengünstig bauen können, haben sie eindrücklich bewiesen – das ist der gute Kern einer schrecklichen Geschichte. Und es ist zugleich die Chance auf ein gutes Ende.
Carl Waßmuth ist Bauingenieur und Vorstandsmitglied des Vereins Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB). Der Verein tritt für die Bewahrung und umfassende Demokratisierung aller öffentlichen Institutionen ein, insbesondere der Daseinsvorsorge.
MieterEcho 442 / Juni 2024