Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 446 / Dezember 2024

„Geflüchtete Menschen werden zum Sündenbock erklärt“

 

Interview mit Emily Barnickel vom Berliner Flüchtlingsrat

MieterEcho: Vor zwei Jahren sah der Flüchtlingsrat drei zentrale Gründe, die es Geflüchteten nahezu unmöglich machten, in Berlin eine Wohnung zu finden: Diskriminierung aufgrund der Herkunft, zu geringe Einkünfte und der Status, der den Erhalt eines Wohnungsberechtigungsscheins oft unmöglich macht. Hat sich an dieser Situation etwas zum Guten geändert?

Emily Barnickel: Leider hat sich in Berlin nichts getan, was die Wohnungssuche für geflüchtete Menschen vereinfacht hätte. Wie wir an allen Ecken in Berlin erleben, wird bezahlbarer Wohnraum zum Luxus, und diese Entwicklung trifft natürlich vor allem sowieso schon benachteiligte Gruppen in der Bevölkerung. Hinzu kommen die Terminstaus bei den zuständigen Behörden, so dass Wohnungsangebote nicht schnell genug geprüft werden und Menschen ihre Wohnungsangebote aus diesen Gründen verlieren. Ein absoluter Tiefpunkt ist die Situation im Landesamt für Einwanderung (LEA), das Menschen zumutet, oft monatelang ohne gültiges Aufenthaltsdokument herumzulaufen, was alles andere als hilfreich bei der Beantragung von WBS oder der Anmietung einer Wohnung ist.

Im Koalitionsvertrag des CDU-SPD-Senats vom April 2023 heißt es: „Damit Berlin seiner Verantwortung als sicherer Hafen gerecht werden kann, bauen wir die professionelle Unterstützungsstruktur zur Unterbringung (…) weiter deutlich aus. Unser Ziel ist eine dezentrale und integrationsfördernde Unterbringung und eine bedarfsgerechte sozialarbeiterische Begleitung.“ Wie sieht die Bilanz nach eineinhalb Jahren aus?

Wir müssen feststellen, dass Berlin sich zu einem Ort mit Großlagern entwickelt, wie in Tegel und Tempelhof, mit je 5.000 bzw. 2.500 Plätzen. Weitere Großstandorte, oft in Containerbauweise oder in alten Gewerbegebäuden, sind in Planung. Auffällig ist, wie die Sozialverwaltung beim Thema Unterbringung allein gelassen wird. Es scheint, als sei das keine gesamtstädtische Aufgabe mehr. Hinzu kommen Streitigkeiten zwischen Bezirken und Land über Standorte und der stagnierende Wohnungsbau.

Das Ziel wurde also verfehlt. Im Gegenteil: Tegel ist ein Ort der Abschottung geflüchteter Menschen in Leichtbauhallen hinter Natodraht und Securitycheckpoints. Tempelhof ist zwar zentraler, aber auch nicht wohnlicher. In Tegel werden nur ein Drittel der dort wohnhaften Kinder beschult, und das in einer extra errichteten Schule auf dem Gelände bzw. am Gelände dran. Da gibt es keinerlei Austausch mit der Stadtgesellschaft. Auch Besuche sind nicht erwünscht, dies wird vom Betreiber, dem DRK Sozialwerk Berlin, und dem Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten strikt abgelehnt.

Berlin müsse sparen, heißt es nun schon seit Monaten, und in allen sozialen und kulturellen Bereichen wird der Rotstift angesetzt. Was bedeutet das für die Zukunft der Unterbringung und Betreuung der Geflüchteten?

Wir können jetzt bereits beobachten, dass der Preis und nicht die angebotenen Leistungen zum alleinigen Kriterium bei der Auftragsvergabe für den Betrieb von Unterkünften wird. Was das im Extremfall bedeutet, zeigt das Beispiel der ehemals vom Unternehmen ORS geführten Unterkünfte. Dort gab es so mangelhafte Sozialbetreuung, dass der Tod eines Bewohners erst nach Wochen bemerkt wurde. 

Die Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) gab schon frühzeitig zu bedenken, dass es wichtig sein könnte, die Unterbringung geflüchteter Menschen über einen Notkredit und somit am Haushaltsstopp vorbei zu finanzieren, um ihren Gesamthaushalt zu entlasten und nicht etwa bei Sozial- und Partizipationsprojekten sparen zu müssen. Aber unserer Kenntnis nach ist Finanzsenator Stefan Evers (CDU) auf diesen richtigen Vorstoß nicht eingegangen.  

Unter welchen Wohnbedingungen leben die geflohenen Menschen heute und welchen Beitrag liefern die Landeseigenen Wohnungsunternehmen (LWU) oder das Housing First Programm bei der Unterbringung geflüchteter Menschen?

Die LWU ermöglichen ja zum Glück Wohnen zu einem bezahlbaren Preis, was das Privatwohnen auch für geflüchtete Menschen natürlich erleichtert, vor allem durch den Anteil an Sozial- und WBS-Wohnungen bei den LWU. Allerdings ist das trotzdem ein sehr hochschwelliges Verfahren, um an eine Wohnung zu kommen. Wir würden uns daher wünschen, dass der sozial gebundene Wohnungsbestand durch Neubau drastisch zunimmt. Und dass das Geschützte Marktsegment und Housing First finanziell und mit zur Verfügung gestellten Wohnungen aufgestockt werden, um Menschen in prekären Lebensverhältnissen – also auch Flüchtlingen – eine Chance auf privates Wohnen zu geben. Housing First soll alle Menschen unterstützen, die hier in Berlin leistungsberechtigt sind und eine multiprofessionelle Unterstützung benötigen. Da aber die Nachfrage das Angebot um Längen schlägt, ist das leider kein Ansatz, der den bis zu 45.000 geflüchteten Menschen in den Gemeinschaftsunterkünften und anderen prekären Einrichtungen hilft.

Das Geschäft mit der Unterbringung und „Betreuung“ von Geflüchteten blüht u. a. durch phantastisch hohe Mieten. Wird diesen Geschäftspraktiken vom Senat Einhalt geboten?   

Leider hat Berlin kein Soziales Unterbringungsgesetz, weshalb es keinerlei Ansprüche an Preis und Qualität gibt. Wir hoffen auf die Einführung eines Gesetzes, das endlich im gesamten Unterbringungsbereich Qualitäts- und Preisstandards festlegt.

Das Thema Migration ist wieder ganz oben in der öffentlichen Debatte angekommen. Überforderte soziale Infrastrukturen, von der Gesundheits- bis zur Wohnungsversorgung, werden mit dem Thema Migration verquickt. Dass die Defizite auch ohne Geflüchtete bestehen, wird geflissentlich übersehen. Wo sieht der Flüchtlingsrat den dringendsten Handlungsbedarf?

Den dringendsten Handlungsbedarf sehen wir in einer Versachlichung der Debatte und der Rückbesinnung auf die Verfassung und Grundwerte der Stadt Berlin. Es kann nicht sein, dass eine sinkende Zahl an geflüchteten Menschen hier zum Sündenbock jeder Problemlage erklärt wird. Wenn wir den Diskurs dann versachlicht und uns der gemeinsamen Werte der Berliner Stadtgesellschaft versichert haben, dann sollte uns auch klar sein: Berlin muss viel mehr investieren in Wohnungsbau, Schulbau und soziale Infrastruktur, denn hier bestehen massive Defizite, auch zu selbstgesteckten Zielen.

Die EU drängt zur Verlagerung von Asylverfahren in Drittstaaten und die Ampel erlässt ein Sicherheitspaket gegen Geflüchtete. „Rechts wirkt“, frohlockt die AfD, wenn die „demokratischen Parteien“ auf europäischer wie auf nationaler Ebene die Politik gegen Geflüchtete forcieren. Wie lässt sich dieser Trend stoppen?  

Dieser Trend würde sich dadurch stoppen lassen, dass wir mal über die tatsächlichen Probleme in Deutschland reden: die Arm-Reich-Schere, den Zustand der Schulen und die Bildungsungerechtigkeit beispielsweise. Die völlig überdrehte Debatte rund um Flucht wird uns keine Schule reparieren. Und auch Grenzverfahren oder die Aufstockung der Grenzschutzagentur Frontex werden das nicht tun. Im Gegenteil: Das wird richtig teuer werden für die EU und ihre Mitgliedsstaaten.

Doch auch jetzt schon verursacht der Umgang mit geflüchteten Menschen immense menschliche und materielle Kosten. Geflüchtete Menschen stehen psychisch immer mehr unter Druck, die politische Stimmung verstärkt Unsicherheiten und Ängste. Sie kommen so viel schwerer in dieser Gesellschaft an und werden einer ständigen Bringschuld ausgesetzt.

Deutschland ist ein Einwanderungsland, aber nie wurde eine wirklich legale Einwanderung oder Flucht hierher ermöglicht. Darum sollte sich die Debatte drehen: legale Flucht- und Migrationswege und eine Vision einer Gesellschaft in Solidarität und Vielfalt. Schon jetzt ist der gesellschaftliche Schaden durch die rassistische Hetze enorm, rechtsstaatliche Prinzipien werden mehr und mehr ausgehöhlt oder in Frage gestellt. Dabei sind die es doch, die lange und mühsam erkämpft wurden.

Wir plädieren dafür, dass unsere Politik wieder mutig und kreativ wird und Zuwanderung bejaht, denn dann kann ein gutes Ankommen gelingen für geflüchtete Menschen und auch die Aufnahmegesellschaft fühlt sich dann gesehen und bestärkt, nicht in Neiddebatten und Hetze zu versinken.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Hermann Werle.

 

Emily Barnickel arbeitet seit 3 Jahren beim Flüchtlingsrat Berlin und dort vor allem in der Härtefallberatung für von Abschiebung bedrohte Menschen, außerdem zu den Themen Unterbringung und Bezahlkarte.
Weitere Informationen unter: www.fluechtlingsrat-berlin.de


MieterEcho 446 / Dezember 2024

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