Feudal oder sozial?
Der Planungsprozess für den Molkenmarkt kommt in die entscheidende Phase
Von Matthias Grünzig
Wohin entwickelt sich die Berliner Stadtpolitik? Sollen landeseigene Grundstücke auch weiterhin durch landeseigene Wohnungsbaugesellschaften (LWU) mit bezahlbaren Wohnungen bebaut werden? Oder droht eine Wende zu Privatisierung und teuren Wohnungen für eine zahlungskräftige Elite? Um diese Fragen wird aktuell am Molkenmarkt gestritten. Derzeit tritt der Konflikt in eine entscheidende Phase ein.
Worum geht es? Der Molkenmarkt ist eine 5,8 Hektar große Brachfläche direkt hinter dem Roten Rathaus, die zum größten Teil dem Land Berlin gehört. Nach den aktuellen Plänen des Senats sollen hier die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften WBM und Degewo rund 450 bezahlbare Wohnungen und 18.500 qm kostengünstige Räume für Kunst und Kultur errichten.
Doch genau diese Planung wird von einem einflussreichen konservativen Netzwerk erbittert bekämpft. Zu diesem Netzwerk gehören die 2011 gebildete Planungsgruppe Stadtkern, die 2022 gegründete Stiftung Mitte Berlin und Teile des Architekten- und Ingenieurvereins zu Berlin-Brandenburg (AIV) mit seinem Vorsitzenden Tobias Nöfer. Hier, direkt hinter dem Roten Rathaus, soll eine öffentlichkeitswirksame stadtpolitische Wende durchgesetzt werden, die auf ganz Berlin ausstrahlen könnte.
Besonders viele Schlagzeilen machte in den letzten Monaten die Stiftung Mitte Berlin mit ihrer Stifterin Marie-Luise Schwarz-Schilling und dem Stiftungsvorstand Benedikt Goebel. Diese Stiftung forderte in einer Verlautbarung vom Sommer 2023 eine „Renaissance der Berliner Mitte durch die Reichen & Schönen“. Anschließend erklärte sie: „Es ist unnatürlich und kontraproduktiv, dass in der historischen Mitte der Metropole nur Sozialmieter wohnen – erst der Zuzug von Wohlhabenden wird ein lebendiges und nachhaltiges Zentrum ermöglichen: die überfällige Zivilisierung, im Wortsinne Verbürgerlichung, der Mitte. Stadtmitten sind als Orte gesteigerter Lebensfreude zu gestalten – nicht als soziale Brennpunkte!“
Stiftung will preiswertes Bauen verhindern
Diese Stiftung fordert mit großer Vehemenz eine Privatisierung der landeseigenen Grundstücke. Ein wichtiges Mittel zur Durchsetzung dieser Ziele sind teure Gestaltungsvorgaben, wie eine kleinteilige Bebauung oder aufwendige Fassaden, die die Baukosten massiv in die Höhe treiben würden. Das Kalkül hinter diesen Forderungen: Am Ende könnten die Baukosten so hoch steigen, dass sie für die LWU nicht mehr finanzierbar wären und ein Ausstieg aus dem Projekt unvermeidlich wäre. Dann könnten die Grundstücke privatisiert werden. Die Stiftung Mitte Berlin hat bereits erklärt, dass in diesem Fall auch Marie-Luise Schwarz-Schilling als Bauherrin einspringen würde. Eine Bedingung stellte sie allerdings doch: Sie würde nur dann bauen, wenn ihr zuvor das Grundstück zu verbilligten Preisen überlassen würde. Die Stiftung will also nichts anderes als eine Subventionierung teurer Wohnungen durch das Land Berlin.
Auch Tobias Nöfer engagiert sich für den Molkenmarkt. Nöfer erklärte in einem Zeitungsinterview im Dezember 2022, dass kostengünstige Wohnungen nicht in der Innenstadt, sondern nur „auf der grünen Wiese“ in den Außenbezirken gebaut werden sollten. Auch er zeigte konkretes Interesse am Molkenmarkt. Im April 2023 kündigte er die Gründung einer „AIV-Baugenossenschaft“ an. Als möglichen Baustandort benannte er den Molkenmarkt.
Dieser Konflikt schwelt seit spätestens 2017 und jetzt scheint er in eine entscheidende Phase einzutreten. Denn bis September soll ein Gestaltungshandbuch für den Molkenmarkt fertiggestellt werden. Hier sollen Gestaltungsvorgaben definiert werden, auf deren Basis anschließend Realisierungswettbewerbe für den Hochbau starten sollen. In beiden Verfahren wird entschieden, ob am Molkenmarkt eher kostengünstige Entwürfe realisiert werden, die auch für die LWU umsetzbar sind. Oder ob hier teure Gebäude vorgeschrieben werden, die für die kommunalen Unternehmen unbezahlbar sind.
Wer sich am Ende durchsetzen wird, ist noch nicht entschieden. Auf der einen Seite gibt es viele positive Signale: Am 22. August 2023 hat der Senat einen Rahmenplan Molkenmarkt beschlossen, der dem bezahlbaren Wohnen einen hohen Stellenwert einräumt. Auch in der im März dieses Jahres veröffentlichten Archäologischen Machbarkeitsstudie wird betont, dass das bezahlbare Wohnen im Mittelpunkt stehen soll. Stadtentwicklungssenator Christian Gaebler (SPD) hat mehrfach die Bedeutung des bezahlbaren Wohnens betont. Der stadtentwicklungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Mathias Schulz, hat sich ebenfalls klar für bezahlbaren Wohnraum ausgesprochen. Die Konzepte der Stiftung Mitte Berlin bezeichnete er als „feudale Stadtpolitik“. Weiter führte er aus: „Die Ziele dieser Stiftung widersprechen einer gemeinwohlorientierten, sozialdemokratischen Stadtentwicklung.“ Schließlich hat der SPD-Landesparteitag am 23. September 2023 einen Beschluss gefasst, nach dem am Molkenmarkt landeseigene Wohnungsbaugesellschaften bezahlbare Wohnungen errichten sollen. Zudem soll jede Zusammenarbeit zwischen dem Land Berlin und der Stiftung Mitte Berlin ausgeschlossen werden.
Eine ganz andere Sprache spricht dagegen die im Februar 2024 veröffentlichte Ausschreibung für das Gestaltungshandbuch Molkenmarkt. In diesem Text werden zwar zahlreiche Anforderungen definiert, wie die „Fassadengliederung (Eingänge, Durchgänge, Fenster, …), Fassadengestaltung (Materialität, Farbgebung, Struktur, Werbung, …), Dachnutzung und Dachform“ und viele andere Dinge. Doch das bezahlbare Wohnen wird an keiner Stelle erwähnt.
Auf Basis dieser Ausschreibung wurde im Juni 2024 das Büro Mäckler-Architekten aus Frankfurt/Main mit der Erarbeitung des Gestaltungshandbuches beauftragt. Christoph Mäckler ist kein Unbekannter. Bundesweite Aufmerksamkeit erlangte er durch sein Engagement für die „Neue Altstadt“ in Frankfurt/Main. Er amtierte als Vorsitzender des Gestaltungsbeirates für die „Neue Altstadt“, zugleich war er Vorsitzender eines Preisgerichts, das die Entwürfe für die Neubauten auswählte.
Mäckler brachte sich vor allem mit zwei Forderungen in den Planungsprozess ein: Einerseits forderte er eine möglichst kleinteilige Parzellierung in Anlehnung an den Stadtgrundriss der Vorkriegszeit. Andererseits schlug er strenge Gestaltungsregeln vor. Am Ende beschloss die Stadtverordnetenversammlung eine sehr rigide Gestaltungssatzung, in der selbst kleinste Details vorgeschrieben wurden.
Frankfurt als mahnendes Beispiel
Beispielsweise heißt es in der Satzung: „Die Oberflächen der Außenwände der Erdgeschosse sind unverputzt aus rotem Sandstein herzustellen, in der Braubachstraße ist auch gelber Sandstein möglich. Die Sockel sind aus Basaltlava herzustellen. Die Oberflächen der Außenwände der Obergeschosse sind zu verputzen oder mit Naturschiefer oder Holz zu verkleiden. (…) Zulässig sind nur altstadttypische, in der Regel steil geneigte Satteldächer. Die Dächer an der Braubachstraße sind traufständig, die zu den übrigen öffentlichen Verkehrsflächen trauf- wie auch giebelständig auszubilden. Es sind unterschiedlich steil geneigte Dächer auszubilden. Flach geneigte Dächer sind nur für Hofgebäude zulässig, die von öffentlichen Verkehrsflächen nicht einsehbar sind. Als Dacheindeckung ist Naturschiefer zu verwenden. Hiervon sind flach geneigte Dächer ausgenommen.“
Diese Vorgaben führten zu einer dramatischen Steigerung der Baukosten: In der „Neuen Altstadt“ wurden 35 Gebäude mit 80 Wohnungen und 30 Gewerbeeinheiten errichtet. Diese Wohnungen wurden zu Preisen von teilweise über 7.000 Euro pro qm verkauft. Dennoch endete das gesamte Projekt mit einem gigantischen Defizit von fast 100 Millionen Euro, die aus der Stadtkasse bezahlt werden mussten. Am Ende hat die Stadt fast 100 Millionen Euro ausgegeben, um 80 hochpreisige Wohnungen zu errichten.
Das Gebiet Molkenmarkt ist viermal so groß wie die „Neue Altstadt“ in Frankfurt/Main. Jeder kann also leicht ausrechnen, wie teuer eine ähnliche Vorgehensweise wie in Frankfurt/Main wäre. Eine derartige Kostenexplosion könnte der Berliner Landeshaushalt kaum finanzieren. Schon jetzt steckt der Berliner Landeshaushalt in der Krise. Wichtige Bauprojekte, wie die Alte Münze oder die Komische Oper, werden zur Disposition gestellt. Im Haushaltsjahr 2025 sollen noch einmal 3 Milliarden Euro eingespart werden. Diese Zahlen machen deutlich, dass das Molkenmarkt-Projekt durchaus gefährdet ist. Jetzt hängt alles davon ab, ob es gelingt, günstige Baukosten durchzusetzen. Ansonsten könnte auch dieses Projekt dem Sparzwang zum Opfer fallen.
Matthias Grünzig arbeitet als als freier Journalist und Bauhistoriker und engagiert sich in der Initiative Offene Mitte Berlin.
MieterEcho 443 / August 2024