Ein UFO will in Neukölln landen
Im Spätsommer eröffnet in der Karl-Marx-Straße nach jahrelangem Umbau das Kalle Neukölln als „Kiez-Kreativkosmos“
Von Tom Küstner
Die Maruhn Real Estate Investment GmbH (MREI) und ihr Vertreter Hans Stier geizen nicht mit Superlativen, wenn es darum geht, ihr Immobilienprojekt Kalle Neukölln medial zu bewerben. Im April 2024 hatten sie zu einem Baustellenrundgang eingeladen, um ihre Fortschritte zu präsentieren. Das Projekt befindet sich im Herzen des Sanierungsgebietes Karl-Marx-Straße / Sonnenallee und bereits 2009 wurde das Gebäude in den Konzeptpapieren des Sanierungsgebietes als eine der Schlüsselimmobilien für die Stadtteilentwicklung hervorgehoben.
Das Gebäude wurde 1971 ursprünglich als Quelle-Kaufhaus eröffnet, beherbergte später die Modekette SinnLeffers und von 2001 bis 2019 einen Karstadt-Schnäppchenmarkt. Eine Verlegenheitsnutzung, die sicherlich nicht kostendeckend war. Seit Jahren wurde diskutiert, was aus dem Betonklotz, zu dem neben dem vorderen Teil an der Karl-Marx-Straße auch ein Parkhaus im hinteren Teil an der Donaustraße gehört, werden sollte. Auch ein möglicher Abriss wurde in Betracht gezogen, der aber für die Klimabilanz viele Nachteile gehabt hätte.
Schließlich erwarb die MREI unter der Leitung von Geschäftsführer Sascha Maruhn das Grundstück für einen einstelligen Millionenbetrag und kündigte eine „Revitalisierung des ehemaligen Kaufhauses“ durch einen kompletten Umbau hin zu einem multifunktionalen und hippen Gebäudekomplex an. Als Architekten hat man Max Dudler, Auckett + Hesse, sowie Realace ins Boot geholt. Die Projektentwickler wollten weitere 200 Millionen für anstehende Umbaumaßnahmen ausgeben.
Das Ex-Warenhaus verfügt insgesamt über eine Bruttogeschossfläche von 50.000 qm, von denen netto 40.000 qm für die Vermietung bereitstehen, aufgeteilt in 26.000 qm Bürofläche, 4.000 qm Edeka-Supermarkt (Untergeschoss), 6.000 qm Food Market (EG) und 4.000 qm für die Dachterrasse. Wohnungen werden nicht entstehen.
Auf einer seit 2020 online geschalteten, betont schrillen Webseite kündigen die Bauherren an: „KALLE ist für alle da!“ und „Ex-Kaufhaus wird Kiez-Kreativkosmos“. Dort liest man etwas von „New Work & Leisure Landscape“, „frisch & frei, Office, Coffee, Foodmarket & Roofgarden“ und „Einzug ab 2024, es wird great & tasty!“. Der Lesefluss der Texte wird dabei von jeder Menge ikonographischer Sonderzeichen gestört. Das soll wohl modern und jugendlich rüberkommen.
Verschärfte soziale Spaltung
Mit diesem Auftritt erntete das Projekt umgehend Spott und Häme in den Foren von Aktivist/innen und Nachbarschaftsinitiativen. Denn die haben ganz andere Sorgen als „New Work & Leisure Landscape“. Seit Jahren kämpfen Mieter/innen in vielen Quartieren in Nord-Neukölln gegen steigende Wohnkosten, überteuerte Gebäudesanierungen und Verdrängung. Die Kaufkraft der Bewohner/innen liegt seit Jahrzehnten im unteren Drittel des ohnehin – im Bundesvergleich – schon niedrigen Berliner Durchschnitts. Die Arbeitslosenquote liegt bei 14,5% (Stand: Juni 2024).
Was man hier gar nicht braucht, ist eine Wiederholung der Fehler im Kleinen, die in San Francisco im Großen gemacht wurden. Dort haben gut verdienende Beschäftigte der Tech-Branche mit ihrer Kaufkraft ein ganzes urbanes Gebiet umgekrempelt und für große Preissprünge bei Wohn- und Lebenshaltungskosten gesorgt. Auf diese Weise wurde das Gewebe einer durchmischten Stadtgesellschaft zerstört, um am Ende einen ökonomisch abhängten und verelendeten Teil der Bevölkerung noch weiter an den Rand zu drängen.
Schon jetzt sind Teile Neuköllns stark von den Gentrifizierungsprozessen betroffen. Im Bezirk fehlt es an Räumen für Soziale Arbeit und Kitas, angemessenen Unterkünften für Geflüchtete und Obdachlose, bezahlbaren Wohnungen für Wohnungslose und Geringverdiener/innen. Viele Wohnungen sind seit Jahren überbelegt, weil sich die Bewohner/innen aus Kostengründen keinen Umzug leisten können.
Im Kontrast dazu bewerben die Projektentwickler das Kalle Neukölln als ein völlig neues Nutzungskonzept, mit einer einzigartigen Mischung aus Büros, Einzelhandel, Gastronomie und Freizeitgestaltung. Doch bislang sieht man nur die schillernden, KI-generierten Bilder auf der Webseite, die einen Eindruck vermitteln sollen, wie es in einer zukünftigen, kommerziellen Parallelwelt sein könnte.
Das Konzept und die Werbesprache erinnern an die großspurigen Ankündigungen des Signa-Konzerns, das Karstadt-Gebäude am Hermannplatz nach historischem Vorbild rekonstruiert im Art déco-Stil umzubauen. Das unbeliebte Vorhaben löste jahrelange Proteste aus und beschäftigte die Politik sowohl in den Bezirksämtern der beiden anliegenden Bezirke wie auf Berliner Senatsebene. Der Konzern betrieb eine ganze Reihe an PR-Maßnahmen, um das Image seines Mega-Umbaus zu verbessern. Ohne Erfolg. Am Ende rutschte das gesamte Immobilien-Imperium von René Benko ab Ende 2023 nach und nach in die Insolvenz. Vom „Neuen Tor für Neukölln“ und Investitionen von 500 Millionen Euro am Hermannplatz träumt seitdem niemand mehr.
Gut einen Kilometer weiter südöstlich soll im Kalle Neukölln nun alles anders werden. Bauherren und PR-Agentur zeigten sich auf ihrem Rundgang hoffnungsvoll und geradezu euphorisch. Die ersten Mietverträge wären unterzeichnet. Mit dem britischen Plattenladen Rough Trade eröffnet bald das erste Einzelhandelsgeschäft. Als wichtige Anker-Mieter würden das InsurTech Unicorn Wefox, ein New Economy Start-up der Versicherungsbranche und der Start-up Hub The Delta mehrere hundert qm Büroflächen beziehen.
Außerdem will die 2017 gegründete Code University of Applied Science, eine private Hochschule für Softwareentwicklung, von ihrem Standort in Alt-Treptow komplett nach Neukölln umziehen, um im Kalle Neukölln ihren neuen Campus zu errichten und in den kommenden Jahren sogar zu erweitern. Das private Bildungsunternehmen mit staatlicher Zertifizierung bietet englischsprachige Bachelor-Studiengänge in den Bereichen Software Engineering, Product Management sowie Interaction Design an und finanziert sich vor allem über Studiengebühren. Ein dreijähriges Studium an der Code kostet 41.100 Euro. Nichts für die Kinder armer Eltern.
Unsichere Anker-Mieter
Code-Gründer Tom Bachem bemüht sich, zu beschwichtigen. Man wolle „nicht die Kinder reicher Eltern, sondern die größten Talente“. Daher gäbe es ein Modell, bei dem die Studiengebühren vorgestreckt werden und Absolvent/innen die Summe erst in Raten zurückzahlen, wenn sie ihre erste Stelle mit einem Jahreseinkommen von 25.000 Euro oder mehr antreten.
MREI-Sprecherr Hans Stier versprach bei dem Pressetermin ferner, dass sowohl der Innenhof im Erdgeschoss als auch der Dachgarten mit Gewächshäusern und Swimmingpool ohne Eintrittsgeld und Konsumzwang offen für alle frei zugänglich sein wird und ergänzt: „Besonderen Wert legen wir darauf, nicht wie ein Ufo wahrgenommen zu werden, das im Bezirk gelandet ist. Wir wollen das Objekt behutsam und auf Augenhöhe in die Umgebung einfügen.“
Ästhetisch ist das schon mal missglückt. Die markante Fassadengestaltung aus voluminösen, weißen Kunststeinen wirkt optisch im Vergleich zu den historischen Fassaden der benachbarten Baudenkmale Alte Post und dem ehemaligen Sparkassengebäude tatsächlich wie ein Raumschiff. Das offenbar jetzt etwas ins Schlingern gerät. Denn bereits gut 2 Monate nach dem Pressetermin berichteten Medien Ende Juni 2024, das Start-up Wefox – einer der angekündigten „Anker-Mieter“ – werde sich vom deutschen Markt zurückziehen, eine Zerschlagung könnte bevorstehen, der ehemalige Gründer und CEO Julian Teicke wurde bereits ausgewechselt.
Welche Folgen diese Entwicklungen für die Bewirtschaftung des Kalle Neuköllns haben wird, wissen bisher wohl nur die Verantwortlichen der Maruhn Real Estate Investment. Wenn überhaupt. Doch es erscheint möglich oder sogar wahrscheinlich, dass die MREI außer Wefox auch The Delta, und somit gleich zwei ihrer wichtigen Anker-Mieter für Büroflächen verlieren könnte. Ob und welche Auswirkungen dies auf die Umzugspläne der Code University haben könnte, ist ebenfalls unklar.
Für die Bewohner/innen im Norden Neuköllns bleibt zu hoffen, dass es ökonomisch nicht wieder eine Bruchlandung wird. Denn von weiterem Leerstand bei Gebäuden in zentraler Lage infolge verfehlter Profitlogik, während gleichzeitig Räume für andere Nutzungsformen dringend gebraucht werden, hätte niemand im Kiez etwas.
MieterEcho 443 / August 2024