Die Privatisierung der S-Bahn basiert auf Lügen
Initiativen und Verkehrsbündnisse fordern Abbruch der Ausschreibung
Von Carl Waßmuth
Die S-Bahn in Berlin steht vor der Zerschlagung und Privatisierung. Die Folgen dieser Entwicklung werden immens sein: Schon jetzt ist bekannt, dass die Kosten von acht auf 20 Milliarden Euro ansteigen. Möglicherweise noch gravierender wird sich die Segmentierung des Betriebs auswirken. Wenn die Ringbahn von einem Betreiber, die Nord-Süd-Strecken von einem zweiten, die Ost-West-Verbindungen von einem dritten und die Wartung der Wagen von einem vierten erfolgen, bedrohen die Schnittstellen die Funktionsfähigkeit des S-Bahn-Netzes insgesamt.
Bisher gibt es international nur ein Beispiel für eine so weitreichende Aufteilung: die Zerschlagung der Metro in London vor über 20 Jahren. Die damalige Privatisierung im Zuge einer Öffentlich-Privaten Partnerschaft (ÖPP) scheiterte krachend. Die Laufzeit betrug 25 Jahre, aber schon nach sieben Jahren mussten die beiden Betreiber eingestehen, dass sie nicht mehr in der Lage waren, einen sicheren Betrieb zu gewährleisten. Die Stadt London musste eine teure Notrettung ihrer „Tube“ einleiten.
Wie aber konnte es dazu kommen, dass Berlin ein derart riskantes und teures Projekt verfolgt? Aus Sicht des Klimaschutzes müsste doch die S-Bahn als Rückgrat des öffentlichen Verkehrs besonders geschützt werden, ihr Funktionieren eine Herzensangelegenheit jeder Landesregierung sein? Und was die Kosten betrifft, sollten doch diejenigen Maßnahmen umgesetzt werden, die den größten Nutzen aufweisen. Die bisher bekannten 12 Milliarden Euro Mehrkosten nützen den Menschen in Berlin nicht, sie werden dem Ausbau des Straßenbahnnetzes und der Rad- und Fußwege in Berlin bitter fehlen. Die S-Bahn-Ausschreibung würde vermutlich kaum eine Mehrheit bekommen, wenn sie zur Abstimmung stünde – und wenn die Regierung der Öffentlichkeit die Wahrheit gesagt hätte. Tatsächlich wurde Berlin jedoch gezielt getäuscht.
Gigantische Geldverschwendung
Man folge mit der Ausschreibung nur der geltenden Gesetzgebung, beteuerten SPD, Linke und Grüne und der von ihnen gebildete Senat. Gemäß dieser Erzählung handelt es sich um eine Beschaffungsmaßnahme, so wie Behörden auch Möbel oder Bleistifte einkaufen und eben nicht selbst produzieren. Tatsächlich erhalten im Zuge der S-Bahn-Ausschreibung private Firmen und Kapitalanleger bei der Vergabe gleich mehrfach Zugriff auf die S-Bahn. Zum einen stellt die Ausschreibung eine funktionale Privatisierung im Zuge einer ÖPP dar. Dabei wird der Betrieb von zwei Dritteln des S-Bahn-Netzes privatisiert.
Zusätzlich werden die neuen Wagen ebenfalls per ÖPP an Private übergeben. In diesem Zuge wird auch die Finanzierung privatisiert: Statt über Landesanleihen werden die zugehörigen Kredite von den Privaten am Kapitalmarkt aufgenommen. Gleichzeitig bilden die Teilverträge des Ausschreibungskonstrukts für sich eine handelbare Ware, ÖPP-Verträge sind bekanntermaßen verkäuflich, und sie werden auch regelmäßig veräußert: Im Durchschnitt wechseln in ÖPP-Projekten alle 6,7 Jahre die Eigentümer.
Das ist nicht die einzige Täuschung. Die grüne Verkehrssenatorin Regine Günther hatte 2020 behauptet, mit der Ausschreibung würden 800 Millionen Euro gespart. Wie sie diese Summe errechnet hatte, verriet sie nie. Im Herbst 2023 gestand der nach der Wahlwiederholung im September gebildete schwarz-rote Senat dann ein, dass die Gesamtkosten 12 Milliarden Euro höher sein würden als ursprünglich veranschlagt. Diese Kostensteigerung müsste zu einer vollständigen Überprüfung des gesamten Vorhabens führen, der Vorgang grenzt fast an Veruntreuung. Denn frühzeitig waren bereits die Umstände bekannt, die die Ausschreibung verteuern. So verlangt die gewählte Aufteilung des Betriebs, dass jeder Betreiber eine eigene Infrastruktur erhält. Wurden Werkstätten bisher für das ganze Netz vorgehalten, werden nun für jedes Teilnetz eigene Werkstätten gebaut. Dazu gehören neue Ausfahrten, neue Nachtabstellgleise und sogar die Diagonalquerung des Karower Kreuzes. Letzteres wäre eine hunderte Millionen Euro teure Brücke, um einem der neuen privaten Betreiber die Zufahrt zu seiner Werkstatt zu schaffen.
Auch war bekannt, dass die S-Bahn-Privatisierung ähnlich wie die Auslagerung des Schulbaus an Private einen Schattenhaushalt bildet, mit dem die Schuldenbremse umgangen werden kann. Nach dem Ende der Niedrigzinsphase kostet dieser Trick jedoch Zinsen in Höhe von mehreren Milliarden Euro. Und nicht zuletzt wurde negiert, dass die Ausschreibung an sich immense Kosten verursacht – unter anderem durch voraussehbare Kosten für Gerichtsverfahren und Zahlungen zur Abwehr von Klagen.
Das Bündnis „EINE S-Bahn für ALLE“ hatte bereits 2019 vor Kosten und Risiken im Zuge der geplanten Ausschreibung gewarnt. Statt darauf einzugehen (oder die Kritik zu entkräften) hielt man den Kritiker/innen entgegen, man hätte die Ausschreibung umfangreich vorbereitet und hätte nun keine Zeit mehr, andere Lösungsvarianten auszuprobieren. Würde die Ausschreibung nicht sofort gestartet, drohe Berlin und Brandenburg, dass in naher Zukunft nicht genügend S-Bahn-Wagen zur Verfügung ständen.
Seither sind vier Jahre verstrichen, in der sich die Vergabe immer weiter verzögert hat. Immer neue Änderungen sollten das Verfahren rechtssicher machen, und dennoch klagte die Firma Alstom und erzwang weitere Änderungen. Seit dem Gerichtsurteil vom März 2024 überarbeitet der Senat also die Ausschreibungsunterlagen erneut. Damit ist aber noch kein Ende des Verfahrens in Sicht. Erfolgt die Vergabe, sind weitere Klagen und weitere Jahre der Verzögerung wahrscheinlich. „Nicht vor 2027“, schätzt man branchenintern.
Die Akteure der Ausschreibung führten ferner an, „die EU-Regeln“ würden erfordern, was sie im Bereich der S-Bahn planten. Die EU ist zwar maßgeblicher Privatisierungstreiber im Eisenbahnsektor. Die Umsetzung der zugehörigen Richtlinien im deutschen Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist jedoch schärfer, als die EU es fordert. Rot-Rot-Grün hätte im Bundesrat Gesetzesänderungen anstoßen können, und auch die Bundesregierung – vor allem die SPD und die Grünen – könnten aktiv werden.
Alternative Kommunalisierung
Darüber hinaus gibt es seit jeher einen einfachen und günstigen Weg, den S-Bahnbetrieb ohne Ausschreibungen zu organisieren. Dazu müssen die Bundesländer Berlin und Brandenburg nur einen bestimmenden Einfluss auf die S-Bahn Berlin GmbH ausüben. Diese befindet sich im Eigentum der Deutschen Bahn AG, die wiederum in Bundesbesitz ist. Am einfachsten wäre eine Anteilsübertragung von 51%. Die Kosten für eine Kommunalisierung wären fraglos geringer als die schon heute bekannten Kosten des Ausschreibungsverfahrens.
Die Bildung von sogenannten „Losen“, also unterschiedlichen Streckenstücken für verschiedene Betreiber, soll angeblich wegen des gesetzlichen Schutzes des Mittelstands erforderlich gewesen sein. Dieser Erzählung folgte bereits die Rot-Schwarze Koalition 2012 und löste den Betrieb der Ringbahn organisatorisch vom Rest. Die behauptete gesetzliche Grundlage für die Aufteilung der S-Bahn hat jedoch nie existiert. Selbst nach einer Aufteilung bleiben die Lose viel zu groß, als dass sie für Mittelständler zu bewältigen wären. Ein Volksbegehren gegen die Privatisierungspläne scheiterte damals am Landesverfassungsgericht – es hätte in Berlin und Brandenburg gleichzeitig durchgeführt werden müssen, so die Argumentation. Politisch hätte man aber auf die Kritik der Bürgerinitiative eingehen können, was bedauerlicherweise unterblieb.
Und dann sind da noch die Schutzbehauptungen des Senats. Die Deutsche Bahn werde die Ausschreibung gewinnen. Oder: die S-Bahn werde auch künftig aus einer Hand betrieben, das zumindest versprach der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU). Diese Aussage steht jedoch einem anderen Versprechen diametral entgegen: Man müsse der Deutsche Bahn AG nach dem Chaos 2010 die S-Bahn GmbH wegnehmen.
Das Gerichtsurteil zur Ausschreibung vom März 2024 hat allerdings klargestellt, dass eine so umfangreiche Vergabe, wenn die Ausschreibung einmal gestartet ist, keine Willkür mehr zulässt. Die Initiative Gemeingut in BürgerInnenhand sowie die Bündnisse Bahn für Alle und EINE S-Bahn für ALLE fordern daher den Abbruch der Ausschreibung und die Kommunalisierung der S-Bahn. Die hochverschuldete DB AG hat wohl kaum Argumente, ein angemessenes Kaufangebot abzulehnen. Berlin würde viel Geld sparen, und die für den Klimaschutz und eine echte Verkehrswende unverzichtbare S-Bahn würde vor einer unsinnigen Zerstörung gerettet.
Carl Waßmuth ist Bauingenieur und Vorstandsmitglied des Vereins Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB). Der Verein tritt für die Bewahrung und umfassende Demokratisierung aller öffentlichen Institutionen ein, insbesondere der Daseinsvorsorge.
MieterEcho 440 / Mai 2024