Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 440 / Mai 2024

Die Magistrale der Moderne

Die Karl-Marx-Allee gibt Einblicke in die sozialistische Stadtplanung

Von Andrej Holm

Architekturbücher sind meist aufwendig gestaltet, haben tolle Fotos, Karten und Grundrissabbildungen – und sind am Ende mit ihren technischen und gestalterischen Details oft doch ein wenig langweilig. Ganz anders das 2023 beim Lukas Verlag herausgegebene Buch von Irma Leinauer zur Geschichte des 2. Bauabschnitts in der Karl-Marx-Allee – also dem Abschnitt zwischen Strausberger Platz und Alexanderplatz, der Ende der 1950er Jahre geplant wurde. Die 600 Seiten sind sowohl Planungskrimi, als auch Geschichtsbuch zur Frühgeschichte der DDR, Analyse einer Planungs- und Baukultur an der Schwelle zur Industrialisierung des Städtebaus und vor allem eine mit Sorgfalt geschriebene Liebeserklärung an ein Wohngebiet in Ostberlin. Eine Leseempfehlung!

Irma Leinauer nimmt uns in ihrem aufwendig recherchierten Buch mit auf eine Reise ins Ostberlin der 1950er und 1960er Jahre und zeigt, dass damals Debatten geführt wurden, die auch heute wieder an Aktualität gewinnen. Es ging nicht nur um die Fragen, wie wir wohnen wollen und welche gesellschaftlichen Aufgaben das Wohnen haben sollte, sondern auch darum, wie es gelingen kann, mit möglichst geringen Kosten möglichst viele Wohnungen in möglichst hoher Qualität zu errichten. 

Der 2. Bauabschnitt der Karl-Marx-Alle stand und steht mit seinen Plattenbauten immer ein wenig im Aufmerksamkeitsschatten der im sowjetischen Zuckerbäckerstil errichteten Arbeiterpaläste im 1. Bauabschnitt der damaligen Stalinallee. Doch im Gegensatz zum spektakulären und ästhetisch anspruchsvollen Unikat der frühen Stalinallee steht der 2. Bauabschnitt exemplarisch für das Paradigma einer konsequenten Industrialisierung des Städtebaus. Mit der Orientierung an rationalisierten Planungs- und Bauabläufen, typisierten Bauelementen und einer industriellen Fertigung von Wohnbauelementen wurden diese Prinzipien hier in die Praxis umgesetzt, lange bevor die Planungen für die Großsiedlungen Marzahn, Hohenschönhausen und Hellersdorf begannen.

Während in der DDR ab den 1960er Jahren die Mehrzahl neuer Wohnungen in industrieller Bauweise errichtet wurden, erreichten die Anteile der Fertigbauweise in der alten BRD nie mehr als 10% der Jahresproduktion. In vielen anderen Wirtschaftsbereichen der DDR technologisch weit überlegen, blieben Rationalisierung und Innovation in der westdeutschen Bauwirtschaft Ausnahmen. Irma Leinauer führt diesen Ost-West-Unterschied auf die Dominanz von klein- und mittelständischen Unternehmen in der Bauwirtschaft West zurück sowie auf die Verfügbarkeit von billiger Arbeitskraft durch die „Gastarbeiterverträge“ (S. 171).

Bau- und Mietpreise entkoppelt 

In der DDR waren fast alle gesellschaftlichen Entwicklungen eine Ressourcenfrage und seltener eine Frage nach den Finanzierungsmitteln. Gerade weil Material und Arbeitskraft knapp waren, schlug die zentralstaatlich organisierte Bauwirtschaft den Weg der Rationalisierung und Industrialisierung ein. Der von Irma Leinauer minutiös dokumentierte Planungsprozess des 2. Bauabschnitts ist auch deshalb so spannend zu lesen, weil er genau in die Zeit fällt, in der die neuen Planungsprinzipien durchgesetzt wurden. 

Das Buch zeigt vor allem, dass Planen und Bauen in der frühen DDR als zentrales gesellschaftliches Thema angesehen und in der Öffentlichkeit diskutiert wurde. Unter den umfangreich ausgewerteten Dokumenten finden sich auch viele Protokolle von Sitzungen der politischen Gremien von SED und Regierung. Mag es auf der einen Seite verstörend wirken, dass sich die Politik in konkrete Gestaltungsfragen einmischt, zeigen viele der von Irma Leinauer wiedergegeben Diskussionen, mit welcher Ernsthaftigkeit Wohnungsfragen und Themen der Stadtentwicklung in der Partei- und Regierungsspitze bearbeitet wurden.

Zugleich gaben die Stellungnahmen von hohen Funktionären des DDR-Staatsapparates den Planer/innen und Ingenieur/innen eine hohe Legitimität, ihre Projekte auch praktisch umzusetzen. So interpretiert Irma Leinauer beispielsweise den Ausschnitt einer Rede von Walter Ulbricht auf einem ZK-Plenum als politischen Rückenwind für alle Pläne einer an Gleichheitsidealen orientierten Stadtentwicklung, die darauf verzichten, dem Stadtzentrum vorrangig besondere Funktionen zuzuweisen: „Gleiche Wohnungen für alle, auch im Zentrum – dieser egalitäre Gedanke wurde nun erstmals politisch geäußert“ (S. 110). 

Während in aktuellen wohnungspolitischen Debatten um den Wohnungsneubau die steigenden Baukosten als scheinbar unbeeinflussbare Rahmenbedingung die Höhe der staatlichen Subventionen bestimmen, wurden in der Planwirtschaft der DDR, ausgehend von den zur Verfügung stehenden Ressourcen und den festgelegten Zielzahlen, die möglichen Baukosten durch die Staatliche Plankommission kalkuliert und vorgegeben. Um die ehrgeizigen Bauziele zu erreichen, wurde an die Zuständigen für die Planung und den Bau das Ziel ausgegeben, die Kosten für eine Wohnung von 25.800 DDR-Mark im Jahr 1956 auf 22.000 DDR-Mark im Jahr 1960 zu reduzieren (S. 105). Die Ausstattung der Wohnungen und vor allem die zunehmend rationalisierten Abläufe der Bauproduktion folgten den volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen und staatlichen Vorgaben. 

Interessant an den Zahlen ist weniger der Vergleich zu heutigen Baukosten, sondern das darin sichtbare Prinzip des staatlichen Wohnungsbaus in der DDR, die Erstellungskosten von den Mietpreisen zu entkoppeln. Die staatlich festgelegten Mieten lagen bei etwa einer DDR-Mark je qm Wohnfläche, die Baukosten zwischen 400 und 550 DDR-Mark je qm und es war von Beginn an klar, dass aus den Mieten im besten Fall die laufenden Kosten der Bewirtschaftung und Instandhaltung refinanziert werden können. Der Wohnungsbau in der DDR wurde als staatliche Verantwortung angesehen und als öffentlich finanzierte Infrastruktur für die Wohnversorgung bereitgestellt. Die Baupreisfestlegungen der Plankommission sind damit kein drakonisch skurriler Eingriff des Staates in die Wirtschaft, sondern stehen für einen verantwortungsvollen Umgang mit knappen öffentlichen Ressourcen, die im Interesse von möglichst vielen genutzt werden sollen.                

Breite öffentliche Diskussion

Das Buch verweist auf eine weitere Seite des staatlich organisierten Wohnungsbaus. Gerade weil der Wohnungsbau als staatlicher Auftrag angesehen wurde, standen auch die einzelnen Planungsschritte regelmäßig im Zentrum von öffentlicher Berichterstattung und Diskussion. Der zuständige Stadtbaudirektor wurde vom Magistrat – also der Regierung Ostberlins – beauftragt, einen „Plan zur Popularisierung des Bauvorhabens einschließlich Aussprache mit der Bevölkerung“ auszuarbeiten (S. 144). Die gewünschte „Popularisierung des Bauvorhabens“ erfolgte vor allem über Veröffentlichungen in den Ostberliner Tageszeitungen. In der BZ am Abend („14-stöckige Punkthochhäuser – Hochgaragen – Großkino. Wie soll die Stalinallee zwischen Strausberger Platz und Alex aussehen? Bauplan steht zur Diskussion“), der Berliner Zeitung („Die Berliner planen und bauen mit. Für und Wider zum Projekt: Rund um den Alex – Leben muß pulsieren“) und dem ND („Wie wir wohnen wollen. Leser diskutieren über das Projekt Verlängerung der Stalinallee bis zum Alexanderplatz“) wurde im Sommer 1958 zu öffentlichen Diskussionen aufgerufen. 

Die Leserbriefseiten der Tageszeitungen entwickelten sich zu regelrechten Foren der öffentlichen Debatte, in denen die Gestaltung der entworfenen Gebäude, die fehlende Anzahl von Läden und Kultureinrichtungen oder auch die Qualität der Grundrisse diskutiert wurden. Im Buch zur Karl-Marx-Allee sind einige Briefe von Leser/innen dokumentiert, die zeigen, dass von grundsätzlicher Kritik an den Planungen bis zu Detailvorschlägen zur technischen Umsetzung ein großes öffentliches Interesse an der Stadtentwicklung bestand (S. 130 ff.). 

Irma Leinauer zeichnet aber nicht nur die Genese der Planungsdokumente nach, sondern bezieht auch Veröffentlichungen in Fachpublikationen und Zeitungsartikeln in ihre Analyse mit ein. Wer darüber hinaus erfahren will, warum die Entwürfe des Ostberliner Chefarchitekten Hermann Henselmann nicht umgesetzt wurden, wie das Bauen in den Taktstraßen der Montagekräne organisiert war und welche gesellschaftlichen Bauten neben dem Kino International und dem ehemaligen Café Moskau im „sozialistischen Wohnkomplex“ des 2. Bauabschnitts geplant wurden, dem sei das Buch von Irma Leinauer wärmstens empfohlen.

 

Irma Leinauer:
Magistrale der Moderne: Das Wohngebiet an der Karl-Marx-Allee im Zentrum von Berlin
Lukas Verlag Berlin, 2023


MieterEcho 440 / Mai 2024

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