Logo Berliner Mietergemeinschaft e.V.
MieterEcho 429 / Januar 2023

Wohnungen statt Notquartiere

Kältehilfe für Obdachlose ist notwendig, ersetzt aber keine dauerhaften Lösungen

Von der Berliner Obdachlosenhilfe e.V.

Mit der Absicht, obdachlosen Menschen im Winter niedrigschwellig und unbürokratisch Übernachtungsplätze anzubieten, gründeten Berliner Kirchengemeinden, Wohlfahrtsverbände und die Senatsverwaltung für Soziales 1989 die Berliner Kältehilfe. An der Notwendigkeit dieser Einrichtung hat sich in den vergangenen Jahren nichts geändert.

In diesem Winter stellt Berlin 1.057 Übernachtungsplätze zur Verfügung, um den schätzungsweise 6–10.000 obdachlosen Menschen der Stadt ein Angebot zu machen, das sie vor dem Erfrieren bewahrt. Zahlreiche Vereine, Initiativen, Verbände und Kirchengemeinden organisieren Notübernachtungen, Suppenküchen und Treffpunkte. Auch die Berliner Obdachlosenhilfe hatte in den Wintern 2018/19 und 2019/20 ein Nachtcafé für bis zu 20 Personen geplant und betrieben. Wir wissen daher um den Aufwand und die Herausforderungen, genauso wie um die schönen Momente, die so ein Begegnungsort bieten kann. 

Dennoch halten wir diese Form der Symptombekämpfung für den grundsätzlich falschen Weg. Jedes Jahr wird die Kältehilfe weiter ausgebaut und es werden mehr Plätze zur Verfügung gestellt. Eine logische Konsequenz aus der steigenden Zahl wohnungs- und obdachloser Menschen in Berlin. Pro Person bezahlt der Senat den Betreibenden einen Satz von 17,10 Euro pro Übernachtung. Auf einen Monat gerechnet macht das über 500 Euro, eine Summe, mit der auch eine Wohnung finanziert werden könnte. Diese naheliegende Lösung scheitert allerdings, wie eigentlich immer, wenn es um das Thema Obdachlosigkeit geht, am Mangel an bezahlbarem Wohnraum als Folge eines extrem zugespitzten Wohnungsmarkts. Da es kaum Aussichten auf eine signifikante Verbesserung dieser Situation gibt, wird das Geld Jahr für Jahr in den Ausbau der Kältehilfe gesteckt, also in ein saisonales Angebot von November bis April, bei dem Menschen zum Teil mit bis zu hundert anderen Menschen ihre Schlafstätte teilen und sich meist nur zwischen 19 und 8 Uhr im Warmen aufhalten dürfen. Einem Menschen diese Art von Lebensalltag abzuverlangen, ist in unseren Augen unmenschlich.

Geschützte Segmente notwendig

Deshalb fordern wir Jahr für Jahr von den politischen Akteur/innen, langfristige Lösungen für obdachlose Menschen zu schaffen, was in erster Linie bedeutet, sie in möglichst gesicherte Wohnverhältnisse zu bringen. Im besten Falle bedeutet das eine eigene Wohnung. Um flächendeckend Wohnraum zur Verfügung stellen zu können, müssen allerdings konsequente Maßnahmen zur Beschaffung von solchem ergriffen werden, wie die Beschlagnahmung bei illegalem Leerstand und die Verpflichtung sowohl der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften als auch der privaten Vermieter, einen Teil ihrer Wohnungen an das geschützte Marktsegment für Wohnungslose abzutreten. Entschieden umgesetzt werden muss auch die Unterbringung nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG), laut dem alle Personen mit Aufenthaltsrecht auch einen Anspruch auf Unterbringung haben, unabhängig von Witterung, Staatsbürgerschaft oder davon, ob sie Sozialleistungen empfangen dürfen. Auch wenn es sich bei ASOG-Unterkünften um Notlösungen handelt und sie oft erhebliche Qualitätsmängel aufweisen, bietet diese Form der Unterbringung gerade Personen, die aufgrund ihres Status bei vielen Angeboten der Wohnungslosenhilfe durchfallen, eine Möglichkeit auf Wohnraum. 

Neben der Bereitstellung von immer mehr Schlafplätzen professionalisiert sich die Kältehilfe auch immer weiter hinsichtlich der Koordinierung und bedarfsgerechten Vermittlung der zahlreichen Angebote. Mittels einer benutzerfreundlichen App können Angebote einfach eingesehen und nach bestimmten Kriterien wie „alle Geschlechter“, „haustierfreundlich“ oder „drogengebrauchend“ gefiltert werden. Selbstverständlich begrüßen wir jede Form, die es obdachlosen Menschen erleichtert, einen Schlafplatz zu finden und die Möglichkeit, diesen an die eigenen speziellen Bedürfnisse anzupassen. Nur zu gut können wir uns an die Zeiten erinnern, wo wir bei Anrufen oder auf unseren Hilfstouren minutenlang geeignete Übernachtungsmöglichkeiten im gedruckten Wegweiser nachschlagen mussten. 

Doch diese Optimierung hat auch eine Kehrseite. So kann der Eindruck entstehen, Obdachlosigkeit sei ein zwar unschöner, aber nicht zu verhindernder Umstand, der zu jeder Stadt gehört, und lediglich eines effizienten Managements bedarf. Aber wir sind der Überzeugung, dass mit den richtigen betreuenden Ansätzen und genügend Wohnraum Obdachlosigkeit so gut wie abgeschafft werden kann. Das zeigt ein Blick nach Finnland, wo mit großen „Housing First“-Programmen die Obdach- und Wohnungslosigkeit auf ein Minimum reduziert werden konnte. Bei „Housing First“ steht die schnelle, unmittelbare Wohnungsvermittlung am Anfang eines Prozesses, zu dem darauf aufbauend weitere Hilfsangebote kommen. Statt dass sich Senat, Verbände und Träger am Ende jeder Kältehilfe-Saison anerkennend auf die Schulter klopfen, sollte also auch in Berlin besser überlegt werden, wie viel sich tatsächlich für die betroffenen Personen verändert hat, denn hier ist „Housing First“ bislang nicht über kleine Modellprojekte hinausgekommen. Natürlich wollen wir die Kältehilfe nicht von einem Tag auf den anderen abschaffen. Sie ist schlicht notwendig, damit Menschen im Winter nicht erfrieren. Aber selbst dieses Minimum an Grundversorgung ist nicht für alle obdachlosen Menschen gleichermaßen zugänglich. Es gibt kaum Einrichtungen, die für Rollstuhlfahrer/innen geeignet sind. Für Suchterkrankte bedeutet die Übernachtung in einer Notunterkunft eine Qual oder ist gänzlich unmöglich, da in den meisten Einrichtungen ein striktes Drogen- und Alkoholverbot gilt. 

Von unseren Hilfstouren, die dreimal in der Woche an Brennpunkten wie dem Alexanderplatz oder dem Kottbusser Tor stattfinden, wissen wir, dass nicht wenige Obdachlose die Einrichtungen der Kältehilfe meiden und es vorziehen, draußen zu schlafen. Als Gründe werden am häufigsten die Angst vor Übergriffen und Diebstahl und ein hohes Konflikt- und Gewaltpotenzial genannt. Außerdem befinden sich einige der Einrichtungen in einem ungenügenden Zustand, was Hygiene und Ausstattung angeht. Nicht selten müssen Übernachtungsgäste auf dem Boden oder Bierbänken schlafen. Oft ist es laut und dreckig. Um sicher zu gehen, dass sich die Menschen, die auf diese Einrichtungen dringend angewiesen sind, auch wohlfühlen, müssen die Nutzer/innen mehr eingebunden werden. Außerdem braucht es einheitliche Qualitätsstandards, mehr barrierefreie Anlaufstellen und spezielle Einrichtungen mit entsprechend qualifiziertem Personal für Betroffenengruppen wie Frauen, Familien, psychisch schwer Erkrankte und queere Personen. 

Ganzjährig und ganztägig

Gerade die Corona-Pandemie zeigte, auf welch wackeligen Beinen die Kältehilfe steht. Auch für uns war die Pandemie ein Grund, das Nachtcafé nicht mehr weiter zu betreiben, weil unsere Räume für eine coronakonforme Unterbringung nicht im Ansatz geeignet sind. So wie uns ging es vielen Einrichtungen, Alternativen waren so gut wie nicht vorhanden. Immerhin gibt es seit diesem Jahr zum ersten Mal eine Quarantäne-Station für positiv getestete Personen. In den letzten beiden Wintern bedeutete ein positiver Corona-Test, dass die Person in sogenannte „Busch-Isolation“ gehen musste, also ihre Corona-Infektion auf der Straße auszukurieren hatte. Im Rahmen der Notversorgung sprechen wir uns für ganzjährig und ganztägig geöffnete Einrichtungen statt saisonaler Kältehilfe aus. Beispielsweise hat die Unterbringung in Hostels im Corona-Winter 2020/21 vielen gut getan, wie uns auf den Touren rückgemeldet wurde. Das ist auch nicht überraschend, denn der Weg von der Straße zurück in eine Wohnung und in ein selbstbestimmtes Leben ist mehr als beschwerlich. Dafür brauchen Menschen Sicherheit und einen Ort zum Rückzug, um Kraft für diesen Weg zu sammeln. Was sie dagegen nicht brauchen, ist es, morgens um 8 Uhr bei Wind, Regen und eisigen Temperaturen vor die Tür gesetzt zu werden, den Tag in der Kälte zu verbringen, um allabendlich wieder vor einer Notübernachtung anzustehen und zu hoffen, dass noch ein Platz frei ist.  

 

Die Berliner Obdachlosenhilfe e.V. hilft obdachlosen und bedürftigen Menschen, indem wir sie direkt auf der Straße mit Essen und Dingen des täglichen Bedarfs versorgen. Zusätzlich helfen wir mit professioneller Sozialarbeit und ehrenamtlicher Unterstützung, wohnungslose Menschen in ein dauerhaftes Wohnverhältnis zu bringen.


MieterEcho 429 / Januar 2023