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MieterEcho 429 / Januar 2023

Historisierender Wiederaufbau bedroht Stadt der Zukunft

Die rückwärtsgewandte Stadtentwicklungspolitik ignoriert die Notwendigkeiten einer sozial-ökologischen Transformation

Von Julian Schwarze

Was wir heute planen und bauen, wird das Stadtbild Berlins und unser aller Leben für viele Jahrzehnte prägen. Oder anders formuliert: Heute bauen wir unsere Stadt der Zukunft und müssen dabei die Herausforderungen der Zukunft fest im Blick haben: Klimawandel, Hitzesommer, Energiekrise, Mobilitätswende, Bauwende und auch den eklatanten Mangel an bezahlbaren Wohnungen. Doch dieser Fokus ist in Gefahr. Stattdessen droht der Weg zurück in die Vergangenheit und der historisierende Wiederaufbau ganzer Stadtviertel.

Die Debatte ist nicht neu, wie der Werdersche Markt oder das Berliner Stadtschloss zeigen. Aktuell gibt es den Versuch, auch am Molkenmarkt, am Rathausforum und bei der Bauakademie das Rad der Zeit zurückzudrehen. Das Problem: Auch die aktuelle Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt ist eine Anhängerin des historisierenden Wiederaufbaus. Vor ihrem Amtsantritt im Dezember 2021 mischte sie in der „Planungsgruppe Stadtkern“ mit, die dafür warb, einen Teil der Grundstücke am Molkenmarkt zu privatisieren. In der Diskussion um die dortige Bebauung hatte sie sich immer wieder für eine eher historisierende Variante ausgesprochen. 

Schon bevor Kahlfeldt ihr Amt antrat, wurden erste Vorbehalte an ihrer Ernennung laut. Zu wenig auf die Zukunft ausgerichtet, zu konservativ – so lautete die Kritik, die im Dezember 2021 über 450 namhafte Architekt/innen, Initiativen und Verbände in einem Offenen Brief an die neue Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey und ihren SPD-Co-Vorsitzenden Raed Saleh richteten. In dem Appell riefen sie dazu auf, den Posten der Senatsbaudirektion von einem Gremium besetzen zu lassen, damit die Person von allen relevanten stadtpolitischen Akteur/innen und Parteien anerkannt werde. Dieser Empfehlung kam die Berliner SPD-Spitze nicht nach. Inzwischen ist Kahlfeldt rund ein Jahr im Amt und daher lohnt sich ein genauerer Blick auf die Folgen dieser Personalentscheidung.

Der lange Schatten von Hans Stimmann 

Verena Pfeiffer-Kloss hat im Blog Urbanophil zusammengetragen, welche historisierenden Projekte Kahlfeldt im gemeinsamen Architekturbüro mit ihrem Ehemann Paul Kahlfeldt in den vergangenen 30 Jahren bearbeitete. Dazu gehören deutschlandweit eine große Anzahl von Villen, luxuriösen Wohnhäusern, hochwertigen Gewerbebauten und historischen Bauten. Kahlfeldt gehörte auch den Kommissionen zum Bau des Berliner Humboldtforums, zum Wiederaufbau der Altstadt von Frankfurt am Main als „Dom-Römer-Quartier“ oder zur Potsdamer Mitte rund um den Alten Markt an.

Schon in den 1990er Jahren gehörte Kahlfeldt zur Entourage des ehemaligen Senatsbaudirektors Hans Stimmann, der vehement für die Rekonstruktion des historischen Stadtgrundrisses in der Berliner Mitte eintritt und für einen Städtebau plädiert, der parzelliert und eigentumsbezogen sein soll. Auch hat er mit seiner Interpretation der „Kritischen Rekonstruktion” von Stadt ein rigides, auf ein „steinernes Berlin” zielendes Stadtbild durchgesetzt, schreibt Pfeiffer-Kloss und warnt: „Es ist nun nicht nur zu befürchten, dass Rekonstruktionsdebatten in Berlin wieder aufleben, Architektur vor allem unter einseitigen ästhetischen Gesichtspunkten verhandelt werden wird und Berlin architektonisch und stadtentwicklungspolitisch endgültig in der Provinzialität landet. Vielmehr noch stellt sich die Frage, wie Petra Kahlfeldt die drängenden Fragen bezüglich der ausufernden Mieten und der Klimaziele lösen möchte. Was sie bislang gemacht hat, ging komplett und haargenau in die andere Richtung, ja ist vielleicht sogar Teil der heutigen Probleme.“

Für die Wiederherstellung der Berliner Altstadt, in der Struktur vor den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg, setzt sich inzwischen auch die neu gegründete „Stiftung Mitte Berlin“ ein. Auch hier droht ein architektonischer Rollback. Stiftungsgründerin ist die Industriellenerbin Marie-Luise Schwarz-Schilling. Das Ziel ihrer Stiftung: „Sie setzt sich dafür ein, dass im Bereich der ehemaligen Altstadt möglichst viele Plätze, Gebäude und Denkmäler aus der Zeit vor 1933 wiedergewonnen werden.“ Die Stiftung hat ihre Pläne beim Mitte-Festival im Oktober vorgestellt, eine Veranstaltung, die auch mit öffentlichen Geldern aus dem Haus des Kultursenators Klaus Lederer (Die Linke) gefördert wurde. Webseite und Visualisierungen der Stiftung zeigen, was sie alles wieder nach historischem Vorbild bebaut sehen will: Die Freifläche zwischen dem Roten Rathaus und der Marienkirche, das Gebiet um den Fernsehturm und den Spreekanal. Und natürlich rund um den Molkenmarkt.

Zuletzt wurde der Streit, ob in Berlin für die Zukunft gebaut oder das Gestern rekonstruiert werden soll, am Molkenmarkt sichtbar. Die Molkenmarkt-Jury hatte im November 2021 zwei Entwürfe für die weitere Bearbeitung ausgewählt. Der Entwurf von OS arkitekter mit czyborra klingbeil architekturwerkstatt „legte von Anfang an einen Schwerpunkt auf soziale und ökologische Aspekte“, schreibt Matthias Grünzig, der als Bürger am Werkstattverfahren beteiligt war. Dieser Entwurf passt gut zu den heutigen Anforderungen an moderne und ökologische Stadtentwicklung der Zukunft. Das sahen auch viele Expert/innen so.

Dem entgegen stand der Entwurf des Büros Bernd Albers mit Vogt Landschaftsarchitekten. Er orientierte sich ursprünglich an der Parzellenstruktur von 1910 und versuchte, diese möglichst weitgehend wieder herzustellen, so Grünzig. „Das Thema klimagerechter Städtebau spielte eine geringere Rolle. Steinerne Straßen, enge Höfe, wenige Bäume, das Fehlen von Versickerungsflächen für das Regenwasser und Photovoltaikanlagen auf den Dächern waren Kennzeichen des Entwurfs.“ Dieser Entwurf stand deshalb zunächst in einem Konflikt mit den Leitlinien, die in einem breit angelegten Beteiligungsverfahren beschlossen wurden. Diese Leitlinie wollen Kahlfeldt und ihr Chef, Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel, nun verändern und ohne Beteiligung des Berliner Abgeordnetenhauses oder der sonstigen Öffentlichkeit im Senat beschließen.

Architekt/innen schlagen Alarm

Unweit des Molkenmarktes haben sich die Befürworter eines steinernen Wiederaufbaus längst durchgesetzt. Die Fassaden des ehemaligen Preußischen Stadtschlosses wurden im Humboldt Forum weitgehend rekonstruiert, nachdem der umstrittene Förderverein Berliner Schloss viele Jahre dafür lobbyiert und Gelder gesammelt hatte. Inzwischen steht der Verein in der Kritik: Fast ein Dutzend private Spender/innen sollen aus dem rechten bis rechtsradikalen Milieu sein, im Einzelfall sogar offen antisemitische Positionen vertreten haben. Der Verein weigert sich bis heute, sich von rechten oder rechtsextremen Spender/innen in seinen Reihen zu distanzieren.

Nur wenige hundert Meter weiter steht der Wiederaufbau der Bauakademie am Schinkelplatz bevor. Nachdem bekannt wurde, dass die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung eine Gestaltungsverordnung zur Wiedererrichtung der Bauakademie plane, war die Kritik groß: Die Berliner Architektenkammer und der Bund Deutscher Architektinnen und Architekten sprachen sich öffentlich gegen eine Vorfestlegung auf eine historische Rekonstruktion des Gebäudes aus. Auch der rot-grün-rote Koalitionsvertrag formuliert eine klare Erwartung: „Die Koalition unterstützt die bundesfinanzierte Bauakademie in ihrem Bestreben, einen nachhaltigen und innovativen Bau im Geiste Schinkels umzusetzen.“ Ein historischer Wiederaufbau wäre mit dieser Prämisse nicht machbar.

Welche Rolle Kahlfeldt bei der Gestaltungsverordnung spielt, konnte bisher nicht geklärt werden. Klar ist allerdings, was auf der Strecke bleibt, wenn die Vergangenheit in der Stadtentwicklung über allem steht. Denn wir müssen heute unsere Stadt für die Zukunft umbauen. Dazu gehört eine nachhaltige und klimagerechte Stadtentwicklung, die auch auf ökologisches Bauen und Umbauen setzt. Eine am Gemeinwohl orientierte soziale Stadt, die bezahlbare Wohnungen im Fokus hat. Die Gestaltung der Mobilitäts- und Energiewende. Und partizipative Planungsprozesse mit einer Offenheit für die Diversität einer Metropole. Das alles darf nicht dem Primat eines reaktionären Wiederaufbaus zum Opfer fallen.  

 

Julian Schwarze ist Sprecher für Stadtentwicklung der Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus.


MieterEcho 429 / Januar 2023