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MieterEcho 430 / Februar 2023

„Es gibt immer noch Gemeinschaft im Kiez“

 

Interview mit Sophia vom Café Cralle Kollektiv

MieterEcho: Das Café Cralle wurde 1977 als Frauenkollektiv gegründet. Mit welchem Selbstverständnis ist dieses Projekt damals angetreten?
Sophia vom Café Cralle Kollektiv:

Ich war ja nicht von Anfang an dabei und das Selbstverständnis hat sich bestimmt immer wieder geändert. Es gab eine Zeit, in der hier keine Männer reinkommen durften. Dann war es eine Zeitlang als Mutter-Kind-Café konzipiert und dann wieder als offenes Café. Das hing immer auch von den Personen ab, die jeweils in dem Kollektiv mitgearbeitet haben.

Die Entwicklung war auch stark von der Entwicklung des gesamten Feminismus geprägt, was auch vor einigen Jahren bedeutete, den Frauen-Begriff offener zu denken. Mittlerweile ist das Kollektiv der Mitarbeitenden für Personen verschiedener Geschlechter offen – außer für cis-Männer. (Anm. d. Red.: Männer, die das ihnen bei der Geburt zugewiesene Geschlecht akzeptieren).

Hat so ein Café auch eine soziale und politische Funktion als Treffpunkt, die über den Feminismus hinausgeht?

Das hat sich ganz automatisch entwickelt. Die Räume waren ja schon immer nutzbar für verschiedene Treffen und Versammlungen. Und da ging es auch ganz stark um die unmittelbare Nachbarschaft. Das hing natürlich auch davon ab, welche politischen Schwerpunkte die Frauen hatten, die jeweils im Kollektiv arbeiteten. Und natürlich auch davon, welche Bedürfnisse die Besucher- und Nutzer/innen hatten. Aber was es hier immer gab, war eine antikapitalistische Grundhaltung.              

Das Café gibt es jetzt rund 45 Jahre. In dieser Zeit gab es in diesem Bezirk mehrere große Umbrüche. Was bedeutet vor allen Dingen die Vertreibung alteingesessener Einwohner/innen durch die Gentrifizierung und der Zuzug anderer Leute für eure Arbeit?

So ab 2010 wurde deutlich, dass die anrollende Gentrifizierung allmählich zu einem ständigen Tresen-Thema wurde. Die ersten mussten dann wegziehen, auch aus der sehr auf den Kiez eingeschworenen Stammkundschaft. Man spürt, wie sich das allmählich ausdünnt. Besonders sind davon ärmere und ältere Menschen betroffen.

Da ist dann allmählich ein neues Publikum herangewachsen, jüngere Menschen, die oft auch sehr aktiv sind, und da entstehen dann auch neue Netze. Da findet ein Generationenwechsel statt, der stark mit der Gentrifizierung verbunden ist. 

Davon ist das Café Cralle auch direkt betroffen. Unser Haus wurde in den letzten Jahren zwei Mal verkauft und es gab auch Mieterhöhungen. Das zwingt uns dann natürlich auch, unsere Preise zu erhöhen. Wir haben dann ein neues Billigbier auf die Karte genommen, damit das Cralle für alle erschwinglich bleibt.
Wir diskutieren im Kollektiv, inwieweit wir nicht selber zum Akteur der Gentrifizierung geworden sind. Das war hier immer ein eher „weiß” gelesener Laden. Und ein bestimmtes Publikum, das definitiv Anteil an der Gentrifizierung hat, kommt dann zu uns, für die sind wir attraktiv. Auch als queerer Ort. Von manchen wird „queer” aber auch als hip wahrgenommen – also welche Rolle haben wir dabei?

Kommen zu euch immer noch Nachbar/innen aus dem Kiez, die mit queeren Communities eher wenig anfangen können und einfach ein Feierabendbier trinken wollen?

Ja, die gibt es. Wir haben auch seit 2005 an jedem Montag den „Lesetresen”, der aus der Nachbarschaft entstanden ist. Das ist so eine Art offene Kiezbühne im laufenden Kneipenbetrieb. Zu jeder vollen Stunde gibt es eine Viertelstunde Lesung und dann kann da auch darüber diskutiert werden. Da kommen sehr viele Leute, die schon ewig im Wedding wohnen. Wir haben auch jahrzehntelange Stammgäste, die feiern hier ihren Geburtstag oder andere Feste und nutzen die Räume für sich – manchmal auch ohne uns.

Nicht nur Mieter/innen, sondern auch viele Gewerbetreibende sind aus diesem Kiez ja bereits vertrieben. Wie ist denn euer Status? Ist das Café Cralle einigermaßen gesichert? Oder droht euch ein ähnliches Schicksal wie dem „Syndikat” in Neukölln, wo ein Immobilienhai, der das Haus erworben hatte, die Räumung durchsetzte?

Gewerbemietverträge sind ja nie so richtig gesichert. 2011 wurde das Haus von einem Privatbesitzer an Akelius verkauft. Uns ist es dann mit zäher Beharrlichkeit gelungen, einen Vertrag mit fünfjähriger Laufzeit plus einer fünfjährigen Verlängerungsoption auszuhandeln, also bis 2021. Der wurde dann für den gleichen Zeitraum verlängert. Wenig später wurde das Haus an Heimstaden verkauft, aber bis 2031 sind wir jetzt eigentlich erstmal abgesichert. 

Für viele Mieter/innen hier im Haus ist das ganz anders gelaufen, bei Neuvermietungen gab es oft nur Kurzzeitverträge und etliche andere fiese Geschichten. Aber mit uns haben die sich korrekt verhalten.

Das Café wird von einem Kollektiv betrieben. Wie muss man sich das vorstellen? Letztendlich ist es ja ein Wirtschaftsbetrieb, der die Kosten erwirtschaften muss, auch für Löhne. Das formale Konstrukt ist eine GbR mit vier Teilhaberinnen, also haftenden Eigentümerinnen. Aber zum Kollektiv gehören ja viel mehr Personen. Wie muss man sich das in Bezug auf Hierarchien und Entscheidungsprozesse vorstellen?

Es gibt ein Plenum und es gibt eine Art Ranking der Entscheidungskompetenzen. Die werden manchmal Einzelpersonen übertragen oder auch Untergruppen und in einigen Fragen ist eben das Gesamtplenum zuständig. Dafür gibt es eine Art Kollektivsatzung, die sich natürlich auch in einem regelmäßigen Entwicklungs- und Veränderungsprozess befindet. 

Was eine kollektive Struktur mit sich bringt, ist natürlich, dass man viel mehr spricht, viel mehr Zeit mit Gesprächen verbringt, weil es eben unser Ziel ist, schon im Vorfeld von Entscheidungen Konsens zu erreichen. Das bedeutet, dass man viel Zeit, die nicht bezahlt wird, mit Gesprächen und Plenum verbringt.

Ein wichtiger Grundpfeiler für linke und feministische Projekte ist ja die Vernetzung. Was für Strukturen haben sich da im Wedding entwickelt und inwieweit seid ihr da eingebunden?

Wir sind hier auf jeden Fall etabliert und bekannt und machen auch bei vielen Sachen mit. Mit Redebeiträgen bei Demos von verschiedenen Initiativen, die uns ansprechen, oder wenn hier was auf dem Leopoldplatz läuft. Dann unterstützen wir natürlich verschiedene feministische und queer-feministische Gruppen. Wir sind eigentlich gut vernetzt und aktiv und versuchen unser Bestes, mit den Leuten, mit denen wir uns solidarisch fühlen, auch immer wieder zusammenzukommen. Und wir beteiligen uns auch an einem bundesweiten Zusammenschluss von Kollektiven.

Wenn ich euer Konzept richtig verstanden habe, dann ist das ja eine Mischung aus offenem Cafébetrieb, festen Gruppentreffen und einem ziemlich breiten, variablen Veranstaltungsangebot.

Ich würde eher von einer Kneipe sprechen, wir sind ja kein Café im eigentlichen Sinne. Wir öffnen um 19 Uhr, es wird hauptsächlich Bier getrunken. Es gibt wechselnde Ausstellungen, manchmal auch Musik, Vorträge oder Lesungen. Dann natürlich Infoveranstaltungen, Gruppentreffen, Stammtische – uns kann hier jede/r ansprechen, um die Räume zu nutzen. Neulich suchten z.B. ein paar Leute dringend einen Raum für eine Betriebsratswahl.

Das Herzstück ist also der offene Kneipenbetrieb?

Ja. Und der richtet sich dann auch nicht an eine spezielle Szene. Am Wochenende, Sonnabend kommt eher junges Publikum, das ausgehen will. Montags ist der eigentliche „Kieztag”, am Donnerstag kommt eher die queere Community zu uns. Aber es gibt auch seit über 20 Jahren eine Doppelkopfrunde und wir haben eine große Auswahl an Spielen, die auch gerne benutzt werden.  

Wie seht ihr denn die nähere Zukunft für dieses Café und vor allen Dingen die Zukunft für diesen Kiez?

Da kann ich nur für mich persönlich sprechen, nicht für das ganze Kollektiv. Für mich ist vor allem beunruhigend, das der Druck auf die meisten Menschen spürbar wächst, auch in unserem Kollektiv. Viele wirken heute gehetzt und gestresst, haben Angst um Geld und Wohnen, das Thema begleitet uns hier tagtäglich. Auch der Arbeitsstress ist für viele deutlich gestiegen, die Löhne aber nicht, und gleichzeitig wird alles rasant immer teurer. Den Menschen fällt es unter diesem Dauerdruck immer schwerer, soziale und politische Arbeit zu machen oder auch nur mal abzuschalten. 

Das klingt nicht sehr optimistisch.

Nein und das finde ich wirklich beunruhigend und auch sehr traurig. Weil man gerade in so einer Kiezkneipe deutlich spürt, wie die alte Solidargemeinschaft allmählich zerbröselt. Als ich hier hergerkommen bin, war es ganz normal, dass jemand aus der Nachbarschaft beim Streichen oder bei der Elektrik hilft, wenn man frisch in eine Wohnung gezogen war. Oder Einkäufe macht, wenn man krank zuhause liegt. Es gibt immer noch Gemeinschaft im Kiez, aber dieses Auffangnetz der Nachbarschaft wird einfach löchriger. Weil viele Leute, die das getragen haben, jetzt nicht mehr hier wohnen können.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Rainer Balcerowiak.

 

Infos im Internet: cafecralle.wordpress.com


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