Ein Bezirk mit vielen Gesichtern
Teile von Lichtenberg sind längst in den Fokus der Immobilienspekulation gerückt
Von Rainer Balcerowiak
Wer oder was ist eigentlich Lichtenberg und wenn ja, wie viele? Ein einigermaßen homogener Stadtbezirk ist es jedenfalls nicht. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich aus dem 1288 erstmals urkundlich erwähnten Dorf Lichtenberg nach mehreren gravierenden territorialen und strukturellen Veränderungen vielmehr ein äußerst heterogenes Gebilde entwickelt.
Erst 1907 erhielt Lichtenberg das Stadtrecht, wurde 1920 jedoch bei der Gründung von Groß-Berlin eingemeindet und bildet seitdem den namensgebenden Ortsteil für den Bezirk Lichtenberg. 1979 wurden der Ortsteil Marzahn und weitere kleine Ortsteile quasi abgespalten und als neuer Bezirk Marzahn konstituiert. Nach der Bezirksreform im Jahr 2001 wurde wiederum der zuvor selbstständige Bezirk Hohenschönhausen nach Lichtenberg eingegliedert.
Zu dem Bezirk, der in den vergangenen zehn Jahren ein starkes Wachstum aufwies und mittlerweile knapp 310.000 Einwohner hat, gehören jetzt 11 Ortsteile, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Neben großen Gewerbegebieten gibt es auch zahlreiche Plattenbauareale, ein Erbe der sozialistischen Wohnungsbaupolitik, bei deren Entwicklung der Bezirk eine wichtige Rolle spielte. Aber es gibt auch traditionell bürgerliche Viertel wie Karlshorst, Altstadtgebiete wie den Kaskelkiez, begehrte naturnahe Lagen wie die Rummelsburger Bucht und in Richtung Stadtgrenze auch fast noch dörfliche Strukturen in Malchow, Falkenberg und Wartenberg.
Zu den überregional bekannten Attraktionen des Bezirks gehören das „Stasi-Museum“ in der ehemaligen Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR in der Normannenstraße und das deutsch-russische Museum Karlshorst in dem Gebäude, in dem am 8. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht besiegelt wurde. Nicht weit davon entfernt befindet sich die traditionsreiche Trabrennbahn Karlshorst, deren Wurzeln bis ins Jahr 1862 zurückreichen. Nicht vergessen sollte man auch den Tierpark Friedrichsfelde, die mit insgesamt 160 Hektar größte Anlage dieser Art in Europa, die zu den beliebtesten innerstädtischen Ausflugszielen gehört.
Keine linke Hochburg mehr
Überragende Bedeutung hatte in DDR-Zeiten auch das Sportforum Hohenschönhausen, das in zahlreichen Sportarten eine der wichtigsten Kaderschmieden für Olympiasieger/innen und Weltmeister/innen war. Zwar hat die zu dem Areal gehörende Eissporthalle „Wellblechpalast“ seit dem Umzug des 1992 in „Eisbären Berlin“ umbenannten DDR-Eishockey-Serienmeisters Dynamo Berlin seinen identitätsstiftenden Kultstatus eingebüßt, doch noch immer gilt das Sportforum als Zentrum des Berliner Leistungssports. 30 Vereine und das Schul- und Leistungssportzentrum Berlin, eine staatliche Elitesportschule, haben dort ihr Domizil und zahlreiche, auch internationale Wettkämpfe werden dort ausgetragen.
Zu den Besonderheiten von Lichtenberg gehört auch die größte vietnamesische Community in Europa. Auch das ein Erbe der DDR-Vergangenheit, denn in dem einst stark industriell geprägten Bezirk waren viele vietnamesische Vertragsarbeiter/innen beschäftigt. Sichtbarster Ausdruck dieser Community ist das Dong Xuan Center in der Herzbergstraße, das weltweit größte vietnamesisch geprägte Handelszentrum außerhalb Vietnams.
Und nicht zuletzt hat Lichtenberg auch für Sozialisten eine überragende Bedeutung, denn auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde haben neben Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg auch viele andere Persönlichkeiten der deutschen Arbeiterbewegung ihre letzte Ruhestätte. Dort findet unter anderem in jedem Januar eine große Gedenkveranstaltung für die beiden Mitgründer/innen der KPD statt, die am 15. Januar 1919 von Freikorps-Soldaten ermordet wurden, die von führenden SPD-Politikern wie Gustav Noske dazu ermuntert worden waren.
Doch jenseits aller geschichtsträchtigen Vielfalt ist Lichtenberg auch schlicht ein Stadtbezirk, der längst von den zahlreichen politischen und sozialen Verwerfungen, die die ganze Stadt betreffen, erfasst worden ist. Das gilt auch für den Wohnungsmarkt. Zwar ist der Anteil der im kommunalen und genossenschaftlichen Besitz befindlichen Wohnungen – besonders im Ortsteil Hohenschönhausen – im stadtweiten Vergleich deutlich über dem Durchschnitt. Doch in den vergangenen Jahren drängten immer mehr private Investoren in den wachsenden Bezirk und werden dabei nicht selten – wie etwa in der Rummelsburger Bucht – von der Bezirkspolitik mit offenen Armen empfangen. Dazu kommt, dass Lichtenberg zu einer Art „Auffangbecken“ für Menschen geworden ist, die durch steigende Mieten aus den innerstädtischen Bezirken verdrängt wurden, was zu überdurchschnittlich steigenden Mieten in dem zuvor vergleichsweise preiswerten Bezirk führte.
Auch die politischen Verhältnisse haben sich deutlich geändert. Seit der Wende war Die Linke und vorher die PDS stets stärkste Partei in dem Bezirk. Nach der „Eingemeindung“ von Hohenschönhausen erreichte sie im September 2001 bei den Wahlen zur Bezirksverordnetenversammlung (BVV) stolze 52% und stellte seitdem als stärkste Partei zumeist auch den Bezirksbürgermeister oder die Bezirksbürgermeisterin. Doch die desaströse „Sparpolitik“ des von 2002 bis 2011 regierenden „rot-roten“ Senats läutete einen kontinuierlichen Abwärtstrend ein, der durch das später einsetzende Aufkommen und Erstarken der AfD noch beschleunigt wurde. Bei den Wiederholungswahlen zur BVV im Februar 2023 konnte die CDU ihr Ergebnis vom September 2021 auf 23,8% fast verdoppeln und löste Die Linke, die nach erneuten Verlusten nur noch auf 23,1% kam, als stärkste Kraft ab und stellt mit Martin Schäfer erstmals auch den Bezirksbürgermeister.
Große soziale Schere
Und natürlich ist Lichtenberg auch ein Bezirk mit krassen sozialen Gegensätzen. Das zeigt ein Blick in die Bezirksregionenprofile anhand der kleinteiligen sozialräumlichen Untersuchungen. Ein wichtiger Indikator ist dabei der Anteil der Empfänger von Grundsicherungsleistungen an der jeweiligen Gesamtbevölkerung. Der beträgt etwa in den alten Dörfern Malchow und Wartenberg 7 bzw. 1,4%, in Karlshorst sind es 5,3%. Im Untersuchungsraum Hohenschönhausener Straße beträgt diese Quote dagegen 26,2%, in Neu-Hohenschönhausen 26,1%, im zu Alt-Hohenschönhausen gehörenden Teil der Landsberger Allee 21,2% und im gesamten Bereich Friedrichsfelde Nord 20,7%. Der Bezirksdurchschnitt liegt bei 16,5%, das entspricht in etwa dem gesamtstädtischen Durchschnitt von 16,6%.
Diese Zahlen korrelieren stets mit anderen Zahlen zum jeweiligen „Status“ der Untersuchungsräume, der regelmäßig im Monitoring Soziale Stadtentwicklung berlinweit dargelegt wird, zuletzt 2021. Zu den Gebieten mit „besonderem Aufmerksamkeitsbedarf“ in Bezug auf Armut und besonders Kinderarmut gehört in Lichtenberg Wartenberg Nord. Allerdings ist der Bezirk weit von einer Ballung sozialer Brennpunkte entfernt, wie sie etwa in Teilen Neuköllns, des Weddings oder in Moabit zu verzeichnen ist.
Auch die Wirtschaftsstruktur Lichtenbergs ist vergleichsweise „gesund“. Zwar sind viele große Industriebetriebe nach der Wende verschwunden, aber es gibt eine Vielzahl kleiner und mittlerer Unternehmen im Handel, im Handwerk und im Dienstleistungsbereich, aber auch moderne, exportintensive Industrie- und Technologieunternehmen der Metallverarbeitung, des Werkzeug- und Fahrzeugbaus, des wissenschaftlichen Gerätebaus und der Elektrotechnik.
Doch für viele Westberliner und die meisten Berlin-Touristen läuft dieser Bezirk, wie alle Ostbezirke außerhalb der Innenstadt, weitgehend unterhalb des Radars. Trotz allmählich deutlich werdender Gentrifizierung, etwa im Weitling-Kiez und in den zu Lichtenberg gehörenden Teilen des Areals rund um den Bahnhof Ostkreuz, ist der „Hipness Faktor“ des Bezirks noch relativ gering. Was sich mit Sicherheit ändern wird, denn der Verdrängungsdruck im benachbarten Friedrichshain ist enorm und längst haben sich einige angesagte Clubs und Bars in Lichtenberg etabliert.
Doch es gab und gibt auch Widerstand in den besonders betroffenen Kiezen, wie zum Beispiel im Umfeld der Rummelsburger Bucht, in anderen Teilen des Spreeufers und am Ostkreuz. Es gibt auch Versuche, diesen bezirksweit zu vernetzen. Das ist auch dringend nötig, denn längst haben sattsam bekannte Immobilienspekulanten und Miethaie den Bezirk für sich entdeckt. Für spannende Prozesse ist in Lichtenberg in der nahen Zukunft jedenfalls gesorgt.
MieterEcho 435 / August 2023