Logo Berliner Mietergemeinschaft e.V.
MieterEcho 424 / Mai 2022

„Wir kämpfen für ein umfassendes Streikrecht“

 

Interview mit Rechtsanwalt Benedikt Hopmann

Monatelang kämpften Fahrradkurier/innen des Gorilla-Lieferdienstes für bessere Arbeitsbedingungen und legten sogar die Arbeit nieder. Da sie nicht in einer Gewerkschaft organisiert waren, galt der Ausstand als „wilder Streik“ .  Von einem „wilden“ oder besser verbandsfreien Streik spricht man, wenn eine Gewerkschaft nicht zu einem Streik aufruft und ihn auch nicht nachträglich übernimmt. In der Folge wurden mehreren Beschäftigten von der Gorilla-Geschäftsführung fristlose Kündigungen ausgesprochen, die in erster Instanz vom Arbeitsgericht Berlin bestätigt wurden. Benedikt Hopmann vertritt die gekündigten Fahrer/innen und will bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen, um das Streikrecht durchzusetzen.   

MieterEcho: Das Arbeitsgericht hat die Kündigungen von zwei Fahrern und einer Fahrerin wegen Beteiligung an dem Streik bestätigt. Entspricht das der gängigen Rechtsprechung in der Bundesrepublik?

Benedikt Hopmann:  Der Richter berief sich schon beim ersten mündlichen Termin auf eine 60 Jahre alte Rechtsprechung. 

Gibt es markante Wegmarken, an denen sich das Streikrecht in der BRD diesbezüglich und in diese Richtung entwickelt hat?

1963 begründete das Bundesarbeitsgericht das Verbot verbandsfreier Streiks so: „(…) es ist wichtig, beim Ausbruch eines Streiks zu Kontrollzwecken Stellen einzuschalten, die (…) die Gewähr dafür bieten, dass nur in wirklich begründeten Fällen gestreikt wird (…). Als solche Stellen kommen auf der Arbeitnehmerseite bei ihrer gesellschaftlichen Stellung nur die Gewerkschaften infrage.“ Die Gewerkschaften sind in diesem Urteil nicht Gegenmacht, sondern werden als Ordnungsfaktor instrumentalisiert. Das Gericht beruft sich einzig auf Hans Carl Nipperdey, der während der Nazizeit einer der Kommentatoren des Gesetzes „zur Ordnung der nationalen Arbeit“ (AOG) war. Dieses Gesetz setzte mit einem Federstrich das gesamte kollektive Arbeitsrecht der Weimarer Republik außer Kraft und ersetzte es durch das uneingeschränkte Prinzip „Führer –Gefolgschaft“. Eine Legalisierung verbandsfreier Streiks wäre auch im Interesse der Gewerkschaften. Wenn sie in der Friedenspflicht sind und die Preise den vereinbarten Tarifen davonlaufen, ist der verbandsfreie Streik der einzige Ausweg.

Wie gestaltet sich das Streikrecht sonst in Europa? Gibt es Beispiele, wo „wilde Streiks“ Normalität sind?

In Frankreich oder Italien ist es zum Beispiel ganz selbstverständlich, dass Beschäftigte auch ohne Aufruf der Gewerkschaften streiken können. Eine besondere Bedeutung hat die älteste ausdrückliche völkerrechtliche Streikgarantie in der Europäischen Sozialcharta. Der Bundestag stimmte schon vor vielen Jahrzehnten dieser Charta zu, 1965 wurde sie von Deutschland ratifiziert. Die europäischen Kontrollgremien erklären seit Jahren, dass in Deutschland das „Verbot aller Streiks, die nicht auf Tarifverträge ausgerichtet sind und nicht von den Gewerkschaften ausgerufen oder übernommen werden“ ein Verstoß gegen die Sozialcharta ist. 1998 sprach das kontrollierende Ministerkomitee des Europarats (nicht der EU!) deswegen eine sogenannte „Empfehlung“ aus, die höchste Stufe der Kritik, die dem Ministerkomitee zur Verfügung steht. Die Rechtsprechung in Deutschland verstößt also seit fast 60 Jahren gegen das Völkerrecht.

Welche nächsten Schritte sind geplant?

Wir wollen durch alle Instanzen gehen und dann Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht einreichen. Auch eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg werden wir prüfen. Besonders wichtig ist uns, dass eine Diskussion über das restriktive und rückständige deutsche Streikrecht in Gang kommt. Der Kampf muss sich auf ein „umfassendes Streikrecht“ richten, wie schon im Wiesbadener Appell von 2012 formuliert. Dazu gehört auch der politische Streik. Dessen pauschales Verbot ist ebenfalls mit der Sozialcharta unvereinbar.  In Italien wird für das Ziel gestreikt: „Die Waffen nieder! Die Löhne hoch!“ Wann ist es in Deutschland soweit?

Wir danken für das Gespräch.

Das Interview führte Hermann Werle.

 

Benedikt Hopmann ist Anwalt und Mitherausgeber der Buchreihe WIDERSTÄNDIG. Weitere Einzelheiten: www.kanzlei72a.de und www.widerstaendig.de


MieterEcho 424 / Mai 2022