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MieterEcho 426 / August 2022

Willkommen zurück

Berlins Irrfahrt in eine wohnungspolitische Sackgasse

Von Andrej Holm

Schon mit der Veröffentlichung der Koalitionsvereinbarung der rot-grün-roten Landesregierung wurde deutlich, dass im Bereich der Wohnungspolitik auf Strategien gesetzt wird, die schon früher nicht geholfen haben, eine soziale Wohnversorgung zu sichern. Das erste halbe Jahr bestätigt diese Befürchtungen: Marktgläubige Neubau-Fixierung, Vorfahrt für private Investitionen und eine Rückkehr von Top-Down-Entscheidungen stehen für eine Politik aus der Vergangenheit.

Die Wohnungspolitik hat auch für die neue Regierung in Berlin einen zentralen Stellenwert. Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) hat den Neubau und die Kooperation mit der Wohnungswirtschaft zur Chefinnensache erklärt und mit Andreas Geisel wurde der SPD-Senator mit der längsten Erfahrung zurück auf den Posten der zuständigen Senatsverwaltung beordert. Der Twitter-Account der Senatsverwaltung begrüßte den neuen, alten Senator mit einem herzlichen „willkommen zurück“ und in den Namen der Senatsverwaltung wurde schnell noch ein „Bauen“ eingefügt, um zu zeigen, wohin die Reise gehen sollte. Wie schon in der Koalitionsvereinbarung mit dem mehrfachen Bekenntnis zu den Neubauzielen steht auch die kleine, aber feine Umbenennung in „Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen“ (SenSBW) für das zentrale Instrument, mit dem die Wohnungskrise bewältigt werden soll. 

Unrealistische Neubauziele

Das Neubau-Mantra wurde im Wahlkampf- und im Koalitionsvertrag so oft wiederholt, dass es nun selbst als Ziel und nicht mehr als Mittel wahrgenommen wird. Mit 20.000 Wohnungen pro Jahr sind die Ziele der neuen Regierung klar umrissen. Und sie werden wohl schon in den ersten Jahren deutlich verfehlt werden. Fast schon kleinlaut musste Senator Geisel inzwischen einräumen: „Die Situation ist im Moment zu volatil, um seriös zu sagen, wann wir erstmals 20.000 Wohnungen im Jahr erreichen.“ (Tagesspiegel, 26. Mai 2022). Auch die Regierende Bürgermeisterin muss nach nur wenigen Monaten im Amt eingestehen, dass es nicht ausreicht, ein Thema zur Chefinnensache zu erklären: „Es kann auch sein, dass wir diese Ziele nicht erreichen, dass wir nicht auf 100.000 bis 2026 kommen. (…)  Es kann auch sein, dass wir in diesem Jahr nicht auf die 20.000 kommen“ (taz, 22. Juli 2022).

Die Zahlen der Baugenehmigungen bestätigen die zurückrudernde Kommunikation des Senats. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres wurden gerade einmal 6.400 Wohnungen genehmigt. Im Vorjahr waren es zum selben Zeitpunkt über 7.900 – im Durchschnitt von 2017 bis 2021 waren es trotz Corona und Mietendeckel sogar fast 9.200 genehmigte Wohnungen. Statt der versprochenen Baubeschleunigung gibt es erst einmal weniger Baugenehmigungen als bisher. Die aktuellen Diskussionen über ein Abflachen des Bevölkerungswachstums, die steigenden Zinsen, den Mangel an Baustoffen und die Inflation dürften die Baustimmung der privaten Bauwirtschaft nicht gerade entfachen. Zumal das Geschäft mit dem zu knappen Bestand ja nach wie vor enorme Gewinne verspricht. „In der Gesamtschau ist wohl zu befürchten, dass der Neubau durch diese veränderten Rahmenbedingungen einbrechen könnte“, heißt es in einer Stellungnahme des Verbandes Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) im Mai 2022. Für eine Regierung, die vor allem auf Neubau setzt, wäre das ein dramatisches Versagen. 

Das zweite große Mantra der neuen Wohnungspolitik lautet „Kooperation statt Konfrontation“. Was klingt wie ein Merksatz aus einem Handbuch der sozialen Arbeit, ist nichts anderes als eine angestrebte Re-Privatisierung der Stadtentwicklung. Statt auf Mietendeckel und Vorkaufsrechte setzt die neue Regierung auf freiwillige Vereinbarungen mit der Wohnungswirtschaft. Ein großspurig angekündigtes Neubaubündnis sollte das partnerschaftliche Verhältnis zur privaten Immobilienwirtschaft besiegeln. 

Die Ergebnisse sind übersichtlich: Die beteiligten Verbände und Unternehmen wollen viele Wohnungen bauen. Der Senat und die Bezirke wollen Genehmigungsverfahren beschleunigen und zusätzliche Flächenpotentiale aktivieren. Die großen Wohnungsunternehmen sollen darüber hinaus 30% der Wiedervermietungen an WBS-berechtigte Haushalte vergeben, eine vom Bund sowieso geplante Absenkung der Kappungsgrenze für Mieterhöhungen auf 11% bereits jetzt zur Anwendung bringen und bei Haushalten unterhalb der Einkommen, die zu einem Wohnberechtigungsschein (WBS) berechtigen, Mieterhöhungen auf 2% pro Jahr beschränken. Das Bündnis ist von seiner sozialen Mildtätigkeit offenbar so gerührt, dass die in der Vereinbarung eingeräumten Mieterhöhungsmöglichkeiten als „neue mietsenkende Kappungsgrenzen“ bezeichnet werden. Hier sei nur der Vollständigkeit halber angemerkt, dass weder eine Erhöhung um 11% noch um 2% einen „mietsenkenden“ Effekt haben. 

Die Grenzen der Bündnis-Politik werden nicht nur im dürftigen Ergebnis deutlich. Ohne die erhofften Unterschriften von weiteren Immobilienverbänden und Unternehmen und nach der Absage von DGB und Berliner Mieterverein beschränkt sich Giffeys Neubaubündnis im Kern auf die Verbände, die bereits 2014 ein „Verbändebündnis für den Neubau“ unterzeichneten. Dazu gekommen sind lediglich Vonovia, die Adler Group, die Jungen Genossenschaften sowie die Regionalvertretung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Der neue Kooperationskurs heißt praktisch, dass neben den üblichen Verdächtigen des Berliner Wohnungsklüngels auch zwei umstrittene Wohnungskonzerne, eine Handvoll engagierter Genossenschaften und ein Wohlfahrtsverband, der nur am Rande mit Wohnungsfragen befasst ist, mit an Bord sind und zaghafte Regeln zum Mieterschutz unverbindlich verabreden.

Die Orientierung an den Interessen der privaten Wohnungswirtschaft beschränkt sich nicht auf das Neubaubündnis, sondern prägt die gesamte Wohnungspolitik. Als eines der wenigen konkreten Vorhaben hat der Stadtentwicklungssenator die Beschleunigung des umstrittenen Karstadt-Umbaus am Hermannplatz auf die Liste des 100-Tage-Programms genommen. Mit einem „vorhabenbezogenem Bebauungsplan“ soll der Planungsprozess gestrafft werden. Im Unterschied zu klassischen Bebauungsplänen wird ein „vorhabensbezogener Bebauungsplan“ nach § 12 BauGB nicht von der Kommune, sondern durch den „Vorhabenträger“ erstellt. Mit anderen Worten: Der umstrittene Investor Signa darf seinen eigenen Bebauungsplan erstellen. Selbst auf immobilienwirtschaftlichen Ratgeberseiten wird vor den Risiken des Instruments gewarnt, weil ein „Vorhabenträger naturgemäß sein Augenmerk in erster Linie auf seine Interessen und nicht die der Anwohner und Nachbarn richten wird“.  

Diese abstrakte Sorge scheint berechtigt, denn in einer Anhörung im Abgeordnetenhaus bestätigte die neue Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeld den nochmal aufgestockten Umfang des Bauvorhabens. Statt der bisherigen Nutzfläche von 60.000 qm soll das Projekt nun fast 110.000 qm umfassen. Da der Masterplan des Senats nicht im Vorfeld, sondern parallel zum Bebauungsplan erarbeitet wird, ist zu befürchten, dass der Gigantismus von Signa am Hermannplatz kaum noch aufzuhalten ist. 

Eine vergleichbare Entwicklung zeichnet sich für den Molkenmarkt ab. Dort macht die neue Stadtbaudirektorin keinen Hehl daraus, dass sie den historisierenden und kleinteiligen Entwurf aus dem Büro Albers favorisiert, der einer Grundstücksvergabe an private Bauherren Tür und Tor öffnen wird. Dass die Senatsverwaltung inzwischen angekündigt hat, die „Charta Molkenmarkt“ allein und ohne Beteiligung der Abgeordneten zu beschließen (siehe Tagesspiegel, 4. Juli 2022), steht für die Rückkehr der Top-Down-Planung im Interesse privater Investoren.

Die lange Bank der Prüfaufträge

Konflikte innerhalb der Koalition gibt es zu vielen Themen der Wohnungspolitik. Die „Prüfung“ möglicher Instrumente, Verfahren und Gesetze ist eine typische Verlegenheitsvokabel der Politik, wenn sich die verhandelnden Parteien nicht einigen können. Laut Koalitionsvertrag sollen 24 mögliche Ziele und Anliegen im Bereich der Wohnungspolitik „geprüft“ werden.  Das betrifft bereits bekannte Streitpunkte wie etwa die gesetzliche Sicherung der Berliner Kleingärten, die Einrichtung eines Mietkatasters, der verbesserte Schutz vor Eigenbedarfskündigungen oder auch die Novelle des Wohnraumversorgungsgesetzes (WoVG). Auch die Nutzung von Erbbaurechten zur Sicherung von dauerhaften Bindungen soll zunächst nur geprüft werden, ebenso wie die Ausweitung der Mieteraktivierung wie im Modellprojekt Kottbusser Tor oder die baurechtliche Absicherung von Wagenplätzen in Berlin. Es könnte also sein, dass die künftige Koalition Kleingärten sichert, Eigenbedarfskündigungen erschwert, ein Instrument zur Durchsetzung von Dauerbindungen entwickelt, die Mietermitbestimmung ausweitet und alternative Lebensformen auf Wagenplätzen dauerhaft sichert. Oder eben nicht, ganz abhängig vom Ergebnis der Prüfungen, die sich die künftige Koalition ins Programm geschrieben hat.  

Die SPD und Senator Geisel beweisen gerade am Beispiel der Bauordnungsnovelle, dass auch längst besprochene Themen neu geprüft werden können. Das entsprechende Gesetz wurde in der letzten Legislaturperiode – nach mehreren Monaten koalitionsinterner Diskussion – kurz vor der Beschlussfassung von Abgeordneten der SPD ausgebremst. Hintergrund dürften die kritischen Stimmen aus der Immobilienwirtschaft gewesen sein, die insbesondere die klimabezogenen Auflagen als kostentreibend ablehnten. Mit einer erheblichen Verzögerung wurde nun erneut ein Entwurf für die Novelle in den Senat eingebracht und zur Prüfung an den Rat der Bürgermeister gegeben. Seither ruht das Verfahren und Senator Geisel stellt einen Beschluss des Gesetzes schon wieder in Frage. In einem Interview in der Morgenpost gab er zu bedenken: „Wir müssen uns also fragen, ob es sinnvoll und vernünftig ist, eine Bauordnung zu verabschieden, die diese Situation möglicherweise noch verschärft und das Bauen völlig unmöglich macht“.  Wann das Gesetz zu erwarten sei, wollte Andreas Geisel im Interview nicht sagen, wer sich hinter dem „wir“ seiner Formulierung verbirgt, schon: „Von der Bauwirtschaft, den Architektinnen und Architekten kam zudem der Vorwurf, dass sich die Zahl der Vorschriften im Bauwesen in den vergangenen 20 Jahren um mehrere Tausend erhöht hat.“ (Berliner Morgenpost vom 25. Juli 2022). Vermutlich wird die Bauordnungsnovelle so lange geprüft, bis auch die Bauwirtschaft mit den künftigen Regeln einverstanden ist.

Machtpolitische Blackbox

Inhaltlich setzt die von der SPD bestimmte Stadtentwicklungs- und Wohnungspolitik der aktuellen Koalition vor allem auf den Neubau und die verstärkte Einbeziehung von privaten Investitionen. Die politischen Entscheidungsprozesse der neuen Wohnungspolitik sind durch einen Mix aus dem Aussitzen aufgeschobener Konflikte, dem Abschluss unverbindlicher Vereinbarungen und Top-Down-Entscheidungen geprägt. Insbesondere die politische Strategie, unliebsame Themen aufzuschieben und nicht zu behandeln, wird bisher in konsequenter Weise verfolgt. Aufgaben wie die Novelle des Wohnraumversorgungsgesetzes, die Kooperationsvereinbarungen mit den landeseigenen Wohnungsunternehmen oder auch die Einführung eines Mietkatasters werden auf später verschoben. Die neue Stadt- und Wohnungspolitik setzt zudem auf Strategien der Entpolitisierung. Politisch umstrittene Entscheidungen werden dabei in Gremien ausgelagert, die sich dem formalen politischen Prozess entziehen. Das Neubaubündnis steht für solch eine Entpolitisierung durch institutionalisierte Nebenabsprachen: Statt die wohnungspolitischen Ziele der Koalition umzusetzen, wurden in nicht öffentlich transparenten Beratungen mit Verbänden und Unternehmen der Wohnungswirtschaft neue Ziel ausgehandelt, die nun als verbindliche Orientierung für die Wohnungspolitik der kommenden Jahre gelten sollen. Auch die Expertenkommission zur Vergesellschaftung droht zur politischen Blackbox zu werden, bei der in nicht-öffentlichen Sitzungen Überlegungen ausgetauscht und Kompromisse gesucht werden, die in der Konsequenz die politische Entscheidung vorwegnehmen oder zumindest wesentlich beeinflussen werden.

Der vor fünf Jahren begonnene Aufbruch in eine öffentliche Verantwortung für eine soziale Wohnversorgung, zu einer Priorisierung von Stadtentwicklungsfragen statt einer ausschließlichen Fixierung auf Neubauzahlen und zu ersten Gehversuchen, die Stadt zusammen mit der Stadtgesellschaft zu gestalten, wird an vielen Stellen ausgebremst. Stattdessen werden wohnungspolitische Rezepte der Vergangenheit aufgewärmt, die nicht nur die Politikinhalte betreffen, sondern auch den Politikstil umfassen. „Willkommen zurück“ wird so von der Grußformel zum politischen Programm. Da bezweifelt werden muss, dass grüne und linke Koalitionspartner die wohnungspolitische Geisterfahrt von Giffey und Geisel stoppen, sind mal wieder die mietenpolitischen Bewegungen und Initiativen in Berlin gefordert.  


MieterEcho 426 / August 2022