Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 422 / Februar 2022

Wenn Bauen zum Selbstzweck wird

Wohnungspolitische Sackgassen von Rot-Grün-Rot

Von Andrej Holm

Eigentlich ist es ganz einfach: Soziale Wohnversorgung setzt einen Neubau von leistbaren Wohnungen, möglichst viele Belegungsbindungen und einen effektiven Schutz von Bestandsmieter/innen voraus. Nichts davon ist im neuen Koalitionsvertrag zu finden. Dem privaten Neubau wird der rote Teppich ausgerollt, während der kommunale Wohnungsbau den sechs Wohnungsunternehmen überlassen wird, die schon in der Vergangenheit an der Erfüllung ihrer Neubauaufgaben scheiterten.

Der neue Koalitionsvertrag war eine schwere Geburt. Die SPD und ihre Regierende Bürgermeisterin wollten eigentlich mit der FDP regieren und hatte zum Thema Wohnungspolitik nur das Neubau-Mantra zu bieten. Die trotz Stimmenzuwachs enttäuschten Grünen mussten beweisen, dass sie einen Umbau zu mehr Klimagerechtigkeit auch praktisch umsetzen können und Die Linke wollte nach leichten Stimmverlusten vor allem zeigen, dass ihre Unterstützung für den Volksentscheid zur Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne auch nach der Wahl noch gilt. In der Konsequenz verhandelten die drei alten und neuen Koalitionsparteien vor allem auf eigene Rechnung. Ein übergreifendes Konzept ist dem Koalitionsvertrag der Bekenntnisse und Formelkompromisse nicht anzumerken.

Baubekenntnis ohne Substanz

Auf den ersten Blick ist in den wohnungspolitischen Abschnitten des Koalitionsvertrages vor allem die Handschrift der SPD zu erkennen. Der Wahlkampfschlager von den 200.000 Neubauwohnungen bis 2030 durchzieht den Koalitionsvertrag und die Priorisierung des Wohnungsneubaus wird allen wohnungspolitischen Überlegungen als Bekenntnis vorangestellt: „Die Koalition bekennt sich dazu, den Wohnungsneu- und Umbau in der Stadt mit höchster Priorität voranzubringen“ (Koalitionsvertrag 2021, S. 8). Zum offensichtlichen Glaubensbekenntnis ohne reales Fundament gerät die im Koalitionsvertrag fixierte Zielzahl angesichts der Ankündigung, dass der konkrete Bedarf an zusätzlichem Wohnraum im Zuge einer Fortschreibung des Stadtentwicklungsplans Wohnen bis 2023 erst noch ermittelt werden soll (S. 13). 

Bemerkenswert ist auch, dass im Koalitionsvertrag ganz offensichtlich zwischen den Wohnversorgungseffekten und dem Wohnungsbau selbst unterschieden wird und die Neubauziele als Selbstzweck ohne Funktion angesehen werden. So wird den neuen Stadtquartieren, deren Entwicklung vorangetrieben werden soll, für die „Schaffung von ausreichendem, bedarfsgerechtem und bezahlbarem Wohnraum sowie zur Erreichung der Wohnungsbauziele“ eine hohe Bedeutung zugemessen. Dass der Wohnungsneubau gar nicht vorrangig auf die Schaffung von bedarfsgerechten und bezahlbaren Wohnungen ausgerichtet ist, wird auch an anderen Stellen deutlich. So verabschiedet sich der Koalitionsvertrag schon mal vorsichtig aus den bisherigen Selbstverpflichtungen des Stadtentwicklungsplans Wohnen 2030. In dem erst 2019 beschlossenen Planungsdokument hieß es noch:

„Der gemeinwohlorientierte Wohnungsneubau ist eine entscheidende Voraussetzung für bezahlbare Mieten. Die Hälfte des erforderlichen Neubaus soll als gemeinwohlorientierter Wohnungsbau entstehen.“ 

Im Koalitionsvertrag hingegen verpflichtet sich die Koalition zu dem Ziel, „den Wohnungsneubau und die dazugehörige Infrastruktur in der Stadt mit höchster Priorität voranzubringen (…). Das Ziel dabei ist, möglichst die Hälfte davon in dieser Legislatur im gemeinwohlorientierten und bezahlbaren Segment zu errichten“ (S. 12).

Während das allgemeine Neubauziel nicht verhandelbar ist und mit „höchster Priorität voranzubringen“ sei, sollen die Gemeinwohlaspekte „möglichst“ erreicht werden. Auch die eingeschobene Präzisierung „in dieser Legislatur“ verheißt nichts Gutes und kann auch als eine langfristige Abkehr von der bisherigen Gemeinwohlquote interpretiert werden.

Zwar müssen kleine semantische Verschiebungen nicht auf die Goldwaage der politischen Bewertung gelegt werden, doch auch das Programm des Koalitionsvertrages hat vor allem den privaten Wohnungsbau im Blick. Mit „Maßnahmen zur Beschleunigung der Planungs-, Genehmigungs- und Bauabläufe“ will die Koalition vor allem „Entwicklungshemmnisse beim Wohnungsbau konsequent abbauen“ (S. 13). Der zweite große Baustein zur Umsetzung der Neubauziele ist das bereits im Wahlkampf angekündigte „Bündnis für Wohnungsneubau und bezahlbares Wohnen“ mit landeseigenen Wohnungsunternehmen (LWU), Genossenschaften und privaten Wohnungsunternehmen. Da über die Kooperationsvereinbarungen mit den landeseigenen Wohnungsunternehmen bereits jetzt Möglichkeiten bestehen, Zielvorgaben abzustimmen, ist der Mehrwert des angekündigten Bündnisses die Einbeziehung von genossenschaftlichen und privaten Bauherren.

Doch am freifinanzierten Wohnungsbau gab es auch in den vergangenen Jahren keinen Mangel. In den Jahren von 2017 bis 2020 wurden im Durchschnitt pro Jahr über 14.500 Wohnungen fertiggestellt. Knapp drei Viertel dieser Wohnungen waren freifinanzierte Wohnungen von privaten und genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen – also Wohnungen ohne jede Sozialbindung. Im Schnitt der letzten Jahre waren das über 10.500 Wohnungen pro Jahr. Für den frei finanzierten Wohnungsbau würde in den kommenden Jahren eine Neubauleistung auf dem bisherigen Niveau ausreichen, um die Ziele der Koalition zu erreichen. Da braucht es keine zusätzlichen Anreize aus einem Wohnungsbaubündnis. 

Ganz anders sieht es im Bereich der gemeinwohlorientierten Neubauten aus. Als gemeinwohlorientiert gelten in Berlin Wohnungen, die von den landeseigenen Wohnungsunternehmen errichtet werden oder im Rahmen der Wohnraumförderungen bestimmte Mietpreisbindungen aufweisen. Die Zahl der jährlich fertiggestellten Wohnungen lag im Durchschnitt der letzten Jahre bei knapp über 4.000 Wohnungen. Nachholbedarf im Bereich des Neubaus gibt es demnach vor allem im Bereich des geförderten und kommunalen Wohnungsbaus. Ob ein großangelegtes Bündnis mit privaten Bauunternehmen dabei helfen wird, darf bezweifelt werden. Bisher wurden gerade einmal 7% der Fördergelder von privaten und genossenschaftlichen Wohnungsbauprojekten abgerufen. Die mit Abstand meisten geförderten Wohnungen wurden von den landeseigenen Wohnungsunternehmen gebaut.

Kommunaler Wohnungsbau wird den LWU überlassen

Obwohl die Neubauzahlen der letzten Jahre zeigen, dass es vor allem an den kommunalen Baukapazitäten mangelt, finden sich im Koalitionsvertrag von Rot-Grün-Rot nur wenige Hinweise darauf, wie das öffentliche Bauen vorangetrieben werden kann. Der Koalitionsvertrag räumt zwar ein, dass für die „ehrgeizigen Neubauziele (…) die Neubaufähigkeit der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften verbessert werden“ muss (S. 15) – konkret angeregt wird jedoch nur ein Prüfauftrag für die Bildung einer „gemeinsamen Planungs- und Neubaueinheit“ der LWU. Der eigentlich seit Jahren fällige Umbau der sechs privatwirtschaftlich organisierten Wohnungsunternehmen im Landesbesitz kann damit nicht gemeint sein. Statt klarer politischer Vorgaben werden die landeseigenen Wohnungsunternehmen wieder einmal sich selbst überlassen. Die Klärung zur Zusammenarbeit bei Planung und Neubau soll „in Absprache mit den Landeswohnungsunternehmen (LWU)“ erfolgen (S. 15). Da sich die LWU bereits in der Vergangenheit den meisten Versuchen einer gemeinsamen Planung entzogen haben und bisher mit der Degewo auch nur eine einzige Wohnungsbaugesellschaft überhaupt eine eigene Planungsabteilung eingerichtet hat, sind die zu erwartenden Synergieeffekte eher begrenzt. Sechs lahmende Gäule ergeben auch zusammen kein Rennpferd. Ohne strukturelle Veränderungen der kommunalen Wohnungswirtschaft werden sich die Neubauzahlen durch öffentliche Wohnungsunternehmen nicht deutlich steigern lassen. Statt den kommunalen Wohnungsbau zur Chefinnensache zur erklären, werden ausgerechnet die landeseigenen Wohnungsunternehmen mal wieder sich selbst überlassen.

In den letzten Jahren wurden bei den Grünen und Linken umfassende Konzepte zum Umbau der landeseigenen Wohnungsunternehmen diskutiert und Vorschläge zum Aufbau von öffentlichen Baukapazitäten unterbreitet. Bis auf die Einrichtung einer Berliner Holz-Bauhütte als Pilotprojekt beim Umbau des ehemaligen Flughafens Tegel hat es keine dieser Ideen in den Koalitionsvertrag geschafft. 

Erste Konturen der wohnungspolitischen Kehrtwende

Mit dem Ringtausch der Zuständigkeiten für die verschiedenen Senatsverwaltungen ist das Ressort Stadtentwicklung und Wohnen zurück an die SPD gegangen. Andreas Geisel beerbt sich damit selbst als Vor-Vorgänger und kann an die Zeit von 2014 bis 2016 anknüpfen. In diesen Jahren wurden nur 10.000 Wohnungen pro Jahr fertiggestellt – unter der Zuständigkeit von Katrin Lompscher und Sebastian Scheel waren es immerhin 15.000 pro Jahr. Die höchste Bauleistung der landeseigenen Wohnungsunternehmen lag in der ersten Amtszeit von Andreas Geisel als Senator für Stadtentwicklung bei gerade einmal 1.250 Wohnungen im Jahr 2016 – in der letzten Legislatur (2017-2021) lag die durchschnittliche Zahl der kommunalen Neubauwohnungen bei immerhin 4.000 Fertigstellungen pro Jahr. Notwendig wären zwischen 8.000 und 10.000 Wohnungen pro Jahr.

Auch wenn Andreas Geisel, der seit 1995 in verschiedenen Funktionen des Berliner Politikbetriebes verankert ist, als Diplom-Ökonom des Nachrichtenwesens keine gesonderte Baukompetenz mitbringt, kann sich die Wohnungswirtschaft auf ihn verlassen. Als eine der ersten Amtshandlungen in neuer bzw. alter Verantwortung darf er die Mieterhöhungen für 200.000 Mieter/innen begleiten, mit denen die „Verluste“ aus dem Mietenstopp des Berliner Mietendeckels aufgeholt werden sollen. Katrin Lompscher hatte sich vor fünf Jahren mit der Aussetzung von Mieterhöhungen bei den Sozialwohnungen ins Amt eingeführt.

Die Schwerpunktsetzungen im 100-Tage-Programm von Rot-Grün-Rot sind als klares Zeichen zu verstehen. Das Programm haben die Koalitionsparteien auf einer Klausurtagung Mitte Januar beschlossen. Neben der Gründung des Bündnisses für den Wohnungsbau und der Einrichtung einer Senatskommission Wohnungsneubau (beide Themen sind bei der Regierenden Bürgermeisterin angesiedelt) wird eine Änderung der Bauordnung zur Beschleunigung des Wohnungsbaus und ein beschleunigter Abschluss der sogenannten Grundlagenermittlung für das B-Planverfahren des umstrittenen Karstadt-Umbaus am Hermannplatz angekündigt (vgl. S. 22 in diesem Heft). Dazu kommt in den ersten 100 Tagen noch ein „Bericht zu laufenden Wohnungsbauvorhaben“ – der, wie sollte es anders sein, als „Grundlage für Maßnahmen zur Beschleunigung des Wohnungsbaus“ dienen soll. Bei anderen Themen setzt der neue Senat eher auf Entschleunigung: Die Passage zur Einrichtung der Expertenkommission zur Enteignung großer Immobilienunternehmen wurde ohne weitere Bearbeitung aus dem Koalitionsvertrag übernommen. Die Koalition wollte sich die gute Stimmung der ersten Klausurtagung vermutlich nicht mit vertiefenden Diskussionen zur Vergesellschaftung verderben und hat das Thema aufgeschoben. 

Der Koalitionsvertrag und auch das 100-Tage-Programm von Rot-Grün-Rot zeigen, dass bau- und wohnungspolitisch in den kommenden Jahren eine Rolle rückwärts zu erwarten ist. Die sozialen Fragen der Wohnversorgung – so ist zu befürchten – werden dabei wieder auf der Strecke bleiben und allenfalls als Nebeneffekt des privaten Geschäfts mit Grundstücken und Wohnungen eingeplant.

 

Der Koalitionsvertrag Berlin 2021 und das 100-Tage-Programm zum Download:
berlin.de/rbmskzl/regierende-buergermeisterin/senat/koalitionsvertrag/
berlin.de/rbmskzl/aktuelles/pressemitteilungen/pressemitteilung.1167780.php


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