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MieterEcho 425 / Juli 2022

Was ist Neukölln?

 

Von Jörg Sundermeier   

Schaut man sich Medienberichte an, scheint Neukölln der fürchterlichste Stadtteil Berlins zu sein – mordende Banden, Diebe mit flinken Fingern und brutalste Ideologen bevölkern offenkundig diesen Stadtbezirk, der größer ist als die meisten Städte Deutschlands.

Woche um Woche liest man von islamistischen Demonstrationen, Tötungsversuchen, Rasereien und Überfällen in den Boulevardzeitungen, die Fernsehsender berichten aus Neukölln ausschließlich Grauenhaftes und die Satiren, in denen Neukölln zum obskuren Unort erklärt wird, sind Legion. Selbst dann, wenn der Unort liebevoll beschrieben wird, wirkt er dennoch besiedelt von armen, bildungslosen Menschen, die vielleicht „ganz besonders authentisch“, nicht jedoch besonders helle sind. Und mit denen die lachenden Leser/innen um keinen Preis der Welt tauschen wollen.

Sicher gibt es Verbrechen in Neukölln und, wie überall, auch eine Menge Arschlöcher. Doch man muss nicht in den Britzer Garten fahren oder zum Rudower Fließ, um zu bemerken, dass in den Berichten einfach Klischees reproduziert werden. 

Umbenennung gegen den schlechten Ruf

Schon als der südöstliche Teil des Bezirks noch eine eigene Stadt war und Rudow und Britz noch eigenständige Orte, war dies so. Die Stadt Neukölln, die 1920 in Groß-Berlin aufging, hieß seit dem Mittelalter Rixdorf, war Anfang 1899 noch das „größte Dorf Preußens“, bis es im selben Jahr die Stadtrechte erhielt. 1903 gab sich Rixdorf stolz ein Wappen, doch Anfang 1912 verlor es seinen Namen – die Stadt vor den Toren Berlins benannte sich nach einem ehemaligen Stadtteil der preußischen Hauptstadt (Neu-Cölln) und versuchte seine Vergangenheit zu ändern. 

Denn Rixdorf, einst von ebenso stolzen wie verstockten Gläubigen gegründet, war immer mehr zu dem geworden, was der Spießer „Sündenpfuhl“ nennt. Es gab unzählige Ballhäuser, Kneipen und Bordelle, um sich zu amüsieren, sprichwörtlich „ist in Rixdorf Musike“. Dass es sich bei den Künstler/innen und Kellner/innen, die für das „Amüsemang“ sorgten, vielfach um Geringverdiener/innen handelte, die sich oft noch der Elendsprostitution hingeben mussten, um nicht zu verhungern, wurde bereits damals in den bis heute legendenbildenden Rixdorf-Darstellungen unterschlagen. 

Die Stadtväter Rixdorfs benannten also die Stadt um und hofften, somit den schlechten Ruf zu verlieren. Er blieb jedoch selbst nach zwei Weltkriegen erhalten. Auch die in Neukölln sehr selbstbewusste Arbeiterbewegung, die nach 1933 noch lange Zeit die Nazis bekämpfte, ihnen aber schließlich unterlag, konnte das Image des Bezirks nicht ändern. Im Gegenteil – den bürgerlichen Kräften war das „rote Neukölln“ suspekt. Als die sozialistische Tradition Neuköllns dann nach und nach in Vergessenheit geriet, waren es die sogenannten „Gastarbeiterfamilien“, Migrant/innen also, die den Westberliner Stadtteil in den Augen der Konservativen als „gefährlich“ erscheinen ließen.

Ob allerdings „das Verbrechen“ in Neukölln je stärker vertreten war als in anderen Teilen Berlins, kann bezweifelt werden. Nur passt es besonders gut ins Klischee, dass die Armen „natürlich“ zu Gewalt und Rechtsbruch neigten.

Und dieses Klischee hat sich bis heute erhalten. Heinz Buschkowsky, langjähriger Bezirksbürgermeister, warnte immer wieder in sehr populären Büchern vor den Bewohner/innen seines Hoheitsbereichs, er vermisste öffentlichkeitswirksam „die Bratwurst“ in seinen Straßen, ließ aber zugleich populäre Straßenfeste absagen, da sie „zu niveaulos“ seien. 

Tatsächlich ist es so, dass man mit Berichten von der Verrohung auf den Neuköllner Straßen zum einen gängige Klischees, die schon zu Rixdorf-Zeiten vorherrschten, bedient, zum zweiten damit Geld machen kann.

Daher wird man über Neukölln noch lange Zeit lesen können, dass man unüberfallen und unermordet nicht einmal um die nächste Straßenecke kommt. Da können die Mietpreise auf Rekordniveau steigen, die Rentner/innen und Arbeiter/innen an den Stadtrand ziehen, das Backwarengeschäft und die Schneiderei den Co-Working-Spaces weichen – für die Nachrichtenproduktion muss Neukölln eben Neukölln bleiben.    

 

Jörg Sundermeier ist Mitverleger des Verbrecher Verlags und Autor. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher „Die Sonnenallee“  (2016) und „11 Berliner Friedhöfe, die man gesehen haben muss, bevor man stirbt“ (2017).   


MieterEcho 425 / Juli 2022