Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 428 / November 2022

Musterbeispiel des Ausverkaufs

Neue Publikation zur Geschichte der EuropaCity in Berlin-Mitte

Von Peter Nowak

Wer den Berliner Hauptbahnhof in nördlicher Richtung verlässt, blickt auf die Glasfassaden von Hochhäusern. Menschen mit geringen Einkommen sind dort höchstens als prekär Beschäftigte zu finden. Obwohl dort in der Mitte Berlins auf einer Fläche von über 40 Hektar hochpreisige Büros und Wohnhäuser entstanden sind, gab es dagegen kaum Proteste.   

„Bemerkenswert an dieser mitten in der Stadt gelegenen Baustelle, deren Fläche doppelt so groß ist wie der Potsdamer Platz, scheint die dröhnend-öffentliche Lautlosigkeit zu sein“, schreiben Alexis Hyman Wolff, Achim Lengerer und Yves Mettler in der Einleitung zur aktuellen Ausgabe der Berliner Hefte zur Geschichte und Gegenwart der Stadt. Es trägt den Titel „Am Rande von EuropaCity“ und beschäftigt sich mit der Landnahme des Kapitals in der Mitte Berlins. 

In der Einleitung wurde auf die politischen Hintergründe verwiesen, die das möglich machten: Die sich in den 1990er Jahren in Europa  ausbreitende wirtschaftsliberale Privatisierungslogik. „In deutschen Städten wurden mit der Privatisierung der Deutschen Bahn viele defunktionalisierte Industrie- und Bahnflächen der Verwertung zugeführt. Die größtenteils privatwirtschaftlich bestimmte Stadtentwicklung verschärft die soziale Krise dieser innerstädtischen Bereiche“, schreiben die Autoren. Im folgenden Aufsatz geht Mettler besonders auf den wirtschaftsliberalen Hype in Berlin vor mehr als einem Jahrzehnt ein. „2006 verwandelte sich Berlin von einer historischen Hauptstadt, von einem Geheimtipp, zu einer globalen Hauptstadt: zum Knotenpunkt der globalen Ökonomie, Kultur und Politik und damit auch der globalen Investoren“, schreibt er. 

Mettler zieht eine Verbindung zu dem als „Deutsches Sommermärchen“ glorifizierten Event der Fußball-Weltmeisterschaft 2006. „Zu diesen Anlass erfand Berlin das Public Viewing, welches das Brandenburger Tor und die Straße des 17. Juni zu einer gigantischen Sportbar werden ließ. Und es war das Jahr, in dem die Deutsche Bahn unter großem politischen Druck den Bau des neuen Hauptbahnhofs fertigstellte“, rekapituliert Mettler die Vorgeschichte der EuropaCity.

Aggressive Profitmaximierung

Das Projekt war 2003 von Vivico, einer Tochtergesellschaft der Deutschen Bahn, initiiert worden. Im Dezember 2007 erwarb das Immobilienunternehmen CA Immo Deutschland die lukrativen Grundstücke im Bieterverfahren. Dessen ausdrückliche Aufgabe bestand nach Mettler darin, „die Flächen in ausgearbeitete Entwicklungsprojekte zu verpacken, um höhere Gewinne zu erzielen“. Wie ein Wirtschaftskrimi liest sich die Beschreibung über den Ablauf der kapitalgerechten Vermarktung des Areals. 

Bezahlbare Wohnungen sind dort kaum zu finden. Die Verordnung, die eine gesetzliche Mindestquote von 25% der Wohnungen für sozialen Wohnungsbau festschreibt, trat erst 2014 in Kraft. Da waren die Verträge für die Europacity schon seit 3 Jahren unterschrieben. Die Autoren blicken über den Berliner Tellerrand, wenn sie feststellen, dass die EuropaCity für ein Modell steht, „in dem der Staat das Land dem globalisierten Kapital überlässt, welches wiederum hemmungslos jede Öffnung ausnutzt, um noch mehr Quadratmeter, noch mehr Geschossfläche für sich zu gewinnen“. So wollte die CA Immo abweichend vom Bebauungsplan ein weiteres Hochhaus auf dem Areal errichten, was aber in einer öffentlichen Sitzung vom Baukollegium abgelehnt wurde. 

Doch solche kleinen Nadelstiche können nicht darüber hinwegtäuschen, dass auf dem Areal die Träume der Investoren weitgehend umgesetzt worden sind. „Die Europacity befindet sich heute in den Händen einer kleinen Gruppe von internationalen Immobiliengesellschaften“, so Mettlers ernüchterndes Fazit. Die Kritik mag für das Quartier um die Heidestraße zu spät kommen. Doch aktuell soll am Gleisdreieck ein Viertel entstehen, das der EuropaCity ähnelt. Dort gibt es noch Proteste von Anwohner/innen. Vielleicht können die in der engagierten Streitschrift zusammengetragenen Fakten dort nützlich sein.     

 

Am Rand von EuropaCity
Alexis Hyman Wolff, Achim Lengerer, Yves Mettler
Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt #9
Books People Places 2022, 136 Seiten, broschiert, 7 €
ISBN 9783946674085
https://amrandvoneuropa.city


MieterEcho 428 / November 2022

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