Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 426 / August 2022

Kapitalistischer Wildwuchs

Unterbringung geflüchteter Menschen in Berlin zwischen privater Hilfe und Geschäftemacherei

Interview mit Georg Classen vom Berliner Flüchtlingsrat   

MieterEcho: Seit Kriegsbeginn flüchteten viele Menschen aus der Ukraine nach Berlin und deren Versorgung mit Wohnraum drohte zu einem massiven Problem zu werden, worauf wir noch zu sprechen kommen. Aber zunächst die Frage, wo und wie wohnen die geflüchteten Menschen, die vor allem seit 2015 nach Berlin gekommen sind?

Georg Classen: Insbesondere Familien mit Kindern haben auf dem regulären Wohnungsmarkt kaum eine Chance, sie leben überwiegend in den etwa 90 Sammelunterkünften, die im Auftrag des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) betrieben werden. Drei Faktoren erschweren die Wohnungssuche. Das sind die häufige Diskriminierung aufgrund der Herkunft, das zu geringe Einkommen bzw. die Abhängigkeit von Sozialleistungen und der Status der Geflüchteten, der den Erhalt eines Wohnberechtigungsscheins (WBS) oft unmöglich macht.

Der Flüchtlingsrat setzt sich schon seit Jahren für die Vergabe von WBS unabhängig von der Aufenthaltsdauer und dem Status der Geflüchteten ein, woran scheitert das?

Mit der Föderalismusreform 2006 wurde die Regelungskompetenz zur Vergabe von WBS auf die Länder übertragen. Wir fordern daher ein eigenständiges Landesgesetz zum WBS. Die restriktiven Maßgaben der Senatsbauverwaltung zum WBS für Nichtdeutsche schließen bisher sogar anerkannte Geflüchtete aus, deren Aufenthaltserlaubnis in den nächsten 11 Monaten verlängert werden muss. Bei Familien mit mehreren Kindern steht entsprechend häufig die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis an, weshalb sie keine Chance auf einen WBS haben und langfristig in den Sammelunterkünften bleiben. Integrationspolitisch ist das eine Katastrophe.

Der Flüchtlingsrat hat 2018 die Forderung aufgestellt „Wohnungen für alle statt immer neuer Obdachlosenunterkünfte.“ Wie sieht angesichts des weiter bestehenden Mangels an regulären Wohnungen die Situation in den vom Land und den Bezirken bereitgestellten Unterkünften aus?

Da gibt es gewaltige Unterschiede. Auch die neu errichteten Modularen Unterkünfte (MUF) wirken stigmatisierend, die Unterbringung ist beengt, die Privatsphäre eingeschränkt. Prioritär ist daher stets der Zugang zu Wohnungen. In den MUF und anderen LAF-Unterkünften gelten aber zumindest verbindliche Standards für Wohnflächen, Qualität, Personalschlüssel und Sozialarbeit. Zudem werden über die Tagessätze landeseigene Wohnimmobilien refinanziert und keine privaten Profiteure. Ganz anders sieht das in den von den Bezirken nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz organisierten ASOG-Unterkünften aus, wo schwerste Qualitätsmängel bestehen und Tagessätze von 35 Euro pro Person und Nacht gezahlt werden. Eine vom Bezirksamt Mitte beauftragte Unterkunft kommt so beispielsweise auf Quadratmetermieten von bis zu 210 Euro, 7.350 Euro/Monat für ein 35 qm Appartement für eine Familie mit fünf Kindern, ohne Verpflegung und ohne Sozialarbeit. Das ist kapitalistischer Wildwuchs.

Wie ließe sich dieser Wildwuchs vermeiden?

Die „Gesamtstädtische Steuerung der Unterbringung“ (GStU) sollte nach dem Vorbild der LAF-Unterkünfte für einheitliche Ausschreibungen, Vertrags- und Qualitätsstandards auch für ASOG-Unterkünfte im Land Berlin sorgen. Die Grünen fordern eine Landesbehörde für ASOG-Unterkünfte, das LAF wäre bereit, die Aufgabe zu übernehmen. Leider ist das seit Jahren vom Senat angekündigte Projekt GStU heute keinen Schritt weiter, auch nicht unter Sozialsenatorin Katja Kipping (Die Linke), die im Gegenteil am System der ASOG-Unterkünfte festhält, um die Verantwortung für die Unterbringung an die Bezirke abzuschieben.

Ein weiteres Problem sind die hohen Eigenanteile, die erwerbstätige Wohnungslose in Berlin als „Miete“ für ihre Unterbringung zahlen sollen. Um die Höhe dieser Eigenanteile zu regeln, müsste Berlin eine Gebührensatzung für LAF- und ASOG-Unterkünfte erlassen, wie sie in anderen Kommunen längst Standard ist, quasi als „Mietendeckel“. Derzeit werden ohne belastbare Rechtsgrundlage von erwerbstätigen Bewohner/innen in LAF-Unterkünften bis zu 344 Euro/Monat/Person, in ASOG-Unterkünften sogar bis zu 35 x 30 = 1.050 Euro/Monat/Person als „Miete“ für einen Bettplatz im Mehrbettzimmer verlangt. Arbeiten zu gehen lohnt sich da für viele Wohnungslose nicht mehr.

Hat es mit der Ankunft der geflüchteten Menschen aus der Ukraine grundsätzliche Veränderungen von Seiten der Senatspolitik gegeben?

Ein neues Phänomen ist die Unterbringung vieler ukrainischer Geflüchteter bei Privatleuten. Dabei wurde in der aktuellen Situation auch deutlich, dass ukrainische Menschen bei privaten Hilfeleistungen oft bevorzugt werden im Vergleich zu Geflüchteten aus anderen Regionen der Welt. Das hat den Senat deutlich entlastet und der Senat konnte vor diesem Hintergrund verkünden, keine Turnhallen in Beschlag nehmen zu müssen. Fraglich ist aber, ob die Entlastung von Dauer sein wird. Die hilfsbereiten Menschen und viele Geflüchtete sind oft nur von einer kurzfristigen Unterbringung ausgegangen. Nun zeigt sich, dass viele Geflüchtete längerfristig in Berlin bleiben und die provisorische private Unterbringung häufig für beide Seiten nicht auf Dauer funktioniert. Viele Geflüchtete benötigen absehbar eine Wohnung oder eine andere Unterkunft. Wir gehen davon aus, dass der Bedarf an Unterkünften in den nächsten Monaten stark steigen wird. Vor diesem Hintergrund muss ein Absenken der Qualitätsstandards in LAF- und ASOG-Unterkünften unbedingt vermieden werden. 

Die Bevorzugung der ukrainischen Geflüchteten ist nicht nur bei den privaten Hilfeleistungen offensichtlich, sondern auch beim staatlichen Agieren. Berichtet wurde von Verdrängungseffekten durch die aktuell Geflüchteten gegenüber den früheren, was ist da dran?

Es kam zu kurzfristigen Räumungen von fünf oder sechs Sammelunterkünften, um dort Menschen aus der Ukraine unterzubringen. Geflüchtete aus anderen Ländern wurden überraschend von einem auf den anderen Tag stadtweit in andere Unterkünfte verlegt – ein großes Problem nicht nur für Familien mit Schulkindern. 

Ein aktuell ungeklärtes Problem ist der Umgang mit Drittstaatsangehörigen, die aus der Ukraine fliehen mussten, wie z. B. Studierende aus afrikanischen Staaten. Während ukrainische Staatsangehörige Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen und einen Hartz IV-Anspruch erhalten, bleibt der aufenthalts- und sozialrechtliche Status der Drittstaatsangehörigen bisher im Ungewissen, obwohl der Senat eine Klärung für Mitte Juni versprochen hatte.

Im März kündigte das Bundesinnenministerium eine Kooperation mit Airbnb an, um Geflüchteten eine Wohnung zu vermitteln. War das eine Imagekampagne oder tatsächliche Hilfe?

Wir sind der Sache im Internet nachgegangen und von der Airbnb-Seite zum UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) weitergeleitet worden. Vom UNHCR-Pressesprecher erhielten wir die Auskunft, dass es über diesen Weg keinerlei Wohnungen gebe und es in Deutschland die behauptete Kooperation zwischen Airbnb und dem Hochkommissariat gar nicht gibt. Es scheint sich also eher um eine Imagekampagne zu handeln.

Welches sind zusammengefasst die zentralen wohnungspolitischen Forderungen des Flüchtlingsrats an den Senat von Berlin?

Berlin braucht ein Landesgesetz zum Wohnberechtigungsschein, das für alle deutschen und nichtdeutschen Wohnungslosen einen WBS-Anspruch mit höchster Dringlichkeit regelt, auch für Geduldete und Menschen mit befristetem Aufenthaltstitel, und ein daran angekoppeltes System der Wohnungsvergabe. Sozialbehörden sollen vorab zur Wohnungssuche rechtsverbindliche Bescheinigungen mit den Konditionen für eine Mietübernahme beim Bezug von Sozialleistungen ausstellen. Und wir fordern die Finanzierung dezentraler Beratungsstellen für wohnungslose Geflüchtete, die bei der Suche nach und Akquise von Wohnungen helfen und als Ansprechpartner für Vermieter und Wohnungssuchende gleichermaßen zur Verfügung stehen. Hier gibt es in einigen Bezirken sehr gute Ansätze freier Träger. Und die Zuständigkeit für Vergabe, Verträge und Qualitätsstandards der ASOG-Unterkünfte muss wie ausgeführt beim Land angesiedelt werden, um den kapitalistischen Wildwuchs einzuhegen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Hermann Werle.  

 

Georg Classen ist Sprecher des Berliner Flüchtlingsrats.
Weitere Informationen unter: www.fluechtlingsrat-berlin.de


MieterEcho 426 / August 2022

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