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MieterEcho 427 / Oktober 2022

Heißer Herbst und kalter Winter

Deutschland steht vor der größten sozialen Krise der letzten Jahrzehnte

Von Rainer Balcerowiak   

Mit Superlativen sollte man recht sparsam umgehen. Aber alles spricht dafür, dass sich Deutschland auf dem schier unaufhaltsamen Weg in eine soziale Krise ungeheuren Ausmaßes befindet. Schon jetzt bringen die Inflation bei Lebensmitteln und die Preisexplosion auf dem Energiesektor viele Haushalte an den Rand der Existenz und auch der viel beschworene „Mittelstand“ sieht sich zunehmend von dieser Entwicklung bedroht. Doch all das ist möglicherweise nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was uns noch bevorsteht.

Das gesamte ökonomische und soziale Gefüge des vormaligen „Exportweltmeisters“ könnte sich alsbald als Kartenhaus erweisen. Rohstoffknappheit, gestörte Lieferketten, exorbitant gestiegene Energiekosten und eine in einigen Segmenten bereits deutlich einbrechende Binnenkonjunktur bilden gepaart mit verfestigten Armuts- und Niedriglohnsektoren ein extrem explosives Gemisch, es droht eine kräftige Rezession. Dazu kommen in Großstädten und Ballungsräumen wie Berlin systemische Verwerfungen auf dem Wohnungsmarkt, geprägt von Immobilienspekulation, stetig steigenden Mieten und unzureichendem Neubau im bezahlbaren Segment. 

Bereits der im Juni veröffentlichte Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes, in den die aktuellen Entwicklungen noch gar nicht eingeflossen sind, zeichnet ein düsteres Bild. 13,8 Millionen Menschen müssen derzeit zu den Armen gerechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie. Sie verfügen über weniger als 60% des Medianeinkommens, das die Grenze zwischen den oberen und den unteren 50% der Einkünfte markiert. Demnach gilt ein Ein-Personen-Haushalt mit Nettoeinkünften unter 1.148 Euro als arm, für größere Haushalte gibt es gewichtete Äquivalenzwerte. 

Schon zwei Monate zuvor hatte das „Monitoring Soziale Stadtentwicklung“ der Berliner Senatsverwaltung für Bauen und Wohnen dramatische Armutsentwicklungen in Berlin dokumentiert, vor allem die wachsende soziale Spaltung in der Stadt betreffend (vgl. MieterEcho 424/Mai 2022). Und das alles vor dem Inflationsschub und vor dem eskalierenden Wirtschaftskrieg gegen Russland, der sowohl seitens der Bundes- als auch der Berliner Landesregierung zum quasi unhinterfragbaren Dogma erhoben worden ist. 

Glasperlen als Entlastung

Anders als während der Corona-Krise wird diesmal aber nicht „die Bazooka ausgepackt“, um die Krisenfolgen zu bewältigen, wie der damalige Finanzminister und heutige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) seinerzeit martialisch verkündete. Jetzt ist dagegen von „wir alle müssen Opfer bringen“ die Rede, da es um „die Verteidigung der westlichen Werte“ gehe. Zu diesen „Werten“ gehört bald auch wieder die während der Corona-Pandemie ausgesetzte „schwarze Null“, also die strikte Begrenzung der Nettokreditaufnahme des Bundes. Zwar gab und gibt es auch in dieser Krise „Entlastungspakete“, zumeist in Form von mit der Gießkanne ausgeschütteten Glasperlen. Alles dominiert von parteipolitischen Spielchen à la: „Du bekommst deinen Tankrabatt und ich bekomme mein Neun-Euro-Ticket“. Fast alles auch nur befristet, also keine nachhaltige Entlastung. Das gilt auch für die bescheidenen Einmalzahlungen für Erwerbstätige, Rentner/innen, Student/innen und Beziehende von Transferleistungen. Und dies vor dem Hintergrund, dass der eigentliche „Energiepreis-Hammer“ bei den meisten Haushalten noch gar nicht unmittelbar in seinem ganzen Ausmaß zugeschlagen hat. 

Natürlich gibt es viele Forderungen von Parteien und Verbänden, um die drohende verstärkte Armutswelle etwas einzudämmen. Krisenbedingte Extra-Profite besonders der Energiekonzerne sollen durch eine „Übergewinnsteuer“ abgeschöpft werden. Damit könnte ein „Energiepreisdeckel“ finanziert werden, um den Grundbedarf an Strom und Wärme für ärmere Haushalte zu subventionieren. Auch weitere gezielte Direktzahlungen an Betroffene sind regelmäßig im Gespräch. Das alles könnte – wenn es denn umfassend realisiert würde, wovon derzeit nicht auszugehen ist – durchaus spürbare Entlastungen bringen, allerdings ohne die Wurzeln der Krise auch nur zu berühren. International agierende Konzerne würden von der Steuer überhaupt nicht erfasst werden, und der Preisdeckel würde im Kern bedeuten, dass die Differenz zwischen dem gedeckelten Preis und dem „Marktpreis“ direkt aus dem Bundeshaushalt an die Konzerne und die Versorger überwiesen würde. Auch das geforderte „Kündigungsmoratorium“ für Mieter/innen, die ihre Nebenkosten nicht mehr bezahlen können, würde bestenfalls kurzfristige Entlastung bringen. Denn die säumigen Beträge könnten sich für die betroffenen Haushalte schnell zu großen Schuldenbergen aufhäufen, die anschließend irgendwie abgestottert werden müssen, gerade von denen, die eh wenig haben.

Selbst die – zweifellos wünschenswerte, aber leider wenig realistische – Umsetzung der Forderung nach einer Verstaatlichung bzw. Rekommunalisierung der gesamten Energieversorgung würde an der Misere kurz- und mittelfristig nur wenig ändern. Denn auch Energieverarbeiter und -versorger in öffentlichem Besitz müssten die Primärenergie – Öl, Gas und auch Steinkohle –  schlicht auf dem Weltmarkt einkaufen und dort sind die Preise nicht nur, aber vor allem wegen des Wirtschaftskrieges gegen Russland explodiert. Erneuerbare Energien tragen mit einem Anteil von 16,6% am Gesamtenergieverbrauch zu wenig bei, um für Entlastung zu sorgen. 

Die gerade von Deutschland forcierte Sanktions- und Embargopolitik gegen Russland hat sich längst als veritabler Rohrkrepierer erwiesen. Die bereits in den späten 1960er Jahren – also inmitten des Kalten Krieges – gegen den Widerstand der USA und der NATO entwickelte und durch die Nord Stream 1-Pipeline weiter vorangetriebene strategische Energiepartnerschaft mit der Sowjetunion und später mit Russland liegt in Trümmern. Das vermeintliche Ziel der aktuellen Politik, also die „Ruinierung“ der russischen Wirtschaft, um den Krieg in der Ukraine zu beenden, hat sich längst als Fata Morgana erwiesen. Zumal sich außerhalb der NATO nur wenige Staaten an diesem absurden Unterfangen beteiligen und auch in der viel beschworenen „westlichen Wertegemeinschaft“ bröckelt es erheblich. 

Wofür demonstrieren?

Die deutsche Energiepolitik ist längst ein Stück aus Absurdistan. Man bettelt bei Autokraten aller Couleur um ein paar Eimer Flüssiggas (die – wenn überhaupt – frühestens 2025 geliefert werden könnten). Man kauft teuren Diesel aus Indien, der dort aus billigem russischen Erdöl raffiniert wurde. Oder teures Öl aus Saudi-Arabien, während dort die einheimische Stromversorgung mit billigem russischen Öl betrieben wird. Bei der „Energiewende“ wurde der Rückwärtsgang eingelegt, Kohlekraftwerke werden – mit ausdrücklicher Unterstützung von Greenpeace – reaktiviert und es wird auf Fracking-Gas aus den USA gesetzt, während hierzulande etliche  Terawattstunden Solarstrom (ungefähr dem Bedarf von rund 2,5 Millionen Haushalten pro Jahr entsprechend) ungenutzt abgeregelt werden, weil es an Netz- und Speicherkapazitäten fehlt. Die Produzent/innen erhalten den Strom dennoch vergütet, die Zeche zahlen alle Stromkund/innen. Trotz Gasknappheit und ungewissen Liefermengen in den kommenden Monaten wird Erdgas für den Export nach Frankreich verstromt, um den Nachbar/innen aus der Klemme mit ihren derzeit nicht betriebsfähigen AKW zu helfen. Die Liste ließe sich lange fortsetzen.

Viel ist jetzt von einem „heißen Herbst“ die Rede, also von massiven Sozialprotesten gegen die drohende Verarmung vieler Menschen. Angestrebt werden „breite Bündnisse“ mit Sozialverbänden, Mieter- und Umweltorganisationen, Gewerkschaften, Kirchen, linken Parteien und anderen.  Und zumeist in strikter Abgrenzung gegen alles, was irgendwie „rechts“ sein könnte. Was darunter zu verstehen ist, hat der herrschende „Block der Mitte“ bereits vorgegeben: Vor allem Kritik am Wirtschaftskrieg gegen Russland oder gar die Forderung nach Beendigung der Sanktionen wird gleichgesetzt mit einer Unterstützung Putins für seinen Angriffskrieg und als „demokratiefeindlich“ eingestuft. Und dieses Framing bleibt bei vielen linken Akteur/innen leider nicht ohne Wirkung. 

Viele Millionen Menschen sind derzeit wütend bis hin zur Verzweiflung. Viele wollen auf die Straße gehen. Aber man sollte nicht versuchen, sie für dumm zu verkaufen. Wenn linke Proteste sich dadurch auszeichnen sollten, dass sie eine der zentralen Fragen der jetzigen Krise einfach ausklammern, dann bekommen wir möglicherweise einen „heißen Herbst“,  bei dem der Wind aus einer ganz anderen Richtung blasen könnte.      


MieterEcho 427 / Oktober 2022