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MieterEcho 427 / Oktober 2022

Hartz IV heißt bald Bürgergeld

Die Vergötzung der Arbeit wird fortgesetzt

Von Basta! Erwerbsloseninitiative

Die Bundesregierung hat großspurig zwei Veränderungen angekündigt: Eine – nunmehr auf 2025 verschobene – Kindergrundsicherung und das Ersetzen von Hartz IV durch ein Bürgergeld.    

Es sind insbesondere die Parteien der Agenda 2010 – SPD und Grüne –, die nun aus Hartz IV das Bürgergeld machen werden. Beide Parteien haben ein Interesse, mit Hartz IV nicht mehr in Verbindung gebracht zu werden. Denn es wird von sehr vielen Leuten gleichgesetzt mit sozialem Abstieg, Demütigung, Armut, Pflichtarbeit und Zwang. Im vorliegenden Gesetzesentwurf zum Bürgergeld vom 21. Juli 2022 heißt es: „dass eine grundlegende Weiterentwicklung nötig ist“. Man wolle „unnötige bürokratische Belastungen ab(zu)bauen.“ 

Die Agenda 2010 war ein Paradigmenwechsel für die SPD, ein Weg hin zum schlanken Staat und zum Ausbau des europaweit größten Niedriglohnsektors. Die Grünen Katrin Göring-Eckardt und Thea Dückert schwärmten schon im Mai 2003 u.a. vom „Fördern und Fordern“ und notwendigen „Sanktionen“. 

Sowohl für die Berliner Regierung als auch in der Zielvereinbarung von Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesagentur für Arbeit 2022 gilt der Glaubenssatz, dass gesellschaftliche Teilhabe nur durch Lohnarbeit erreicht werden kann, die aber gleichzeitig Pflichtcharakter hat. Ein individuelles Recht, Arbeitsangebote und Maßnahmen abzulehnen, unerträgliche und sinnlose Jobs ohne Einbußen zu kündigen, soll auch künftig nicht gewährt werden. Erreicht werden soll, wie es etwa im „Qualifizierungsplan 2022 der Berliner Agentur für Arbeit“ exemplarisch formuliert ist, dass „der Arbeitskräftebedarf der Unternehmen bedient“ wird – unter anderem des Flughafens Berlin-Brandenburg, der Produktionsstätte von Tesla in Grünheide und „im unteren Qualifikationsbereich der Betreuungsassistenz und der Pflegehilfe“.

Sanktionen bleiben erhalten

Folgende Aussagen im Gesetzesentwurf klingen zunächst nach Verbesserungen: „Wir gewähren in den ersten beiden Jahren des Bürgergeldbezuges die Leistung ohne Anrechnung des Vermögens und anerkennen die Angemessenheit der Wohnung.“ Man will die Neuen im Bürgergeldbezug nicht gleich entwerten. Sie sollen anders als Langzeiterwerbslose noch an einen möglichen Aufstieg glauben. Das Vermögen muss erst ab 60.001 Euro aufgebraucht werden. Allerdings: SPD und Grüne wollen sich an den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu Sanktionen orientieren. Das Gericht hatte Ende 2019 geurteilt, dass Sanktionen höchstens zu einer Kürzung des Existenzminimums um 30% und nicht mehr zu einer 60-prozentigen oder vollständigen Kürzung führen dürfen. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und die FDP interpretieren das Urteil des Verfassungsgerichts zu Sanktionen hingegen so, dass bei „notorischer Arbeitsverweigerung“ auch Totalsanktionen möglich bleiben sollen.                                                                       

Immerhin, unter 25-Jährige verlieren durch Sanktionen nicht mehr ihre Wohnung und den Krankenversicherungsschutz. Schüler/innen, Azubis und Studierende möchte man mit einem höheren Freibetrag belohnen, sollten sie neben ihren alltäglichen Belastungen auch noch arbeiten gehen. Junge Erwachsene dürfen jedoch auch weiterhin nicht ohne „triftigen“ Grund von den Eltern wegziehen.

Ab dem 1. Juli 2023 sollen statt „Eingliederungsvereinbarungen“ „Kooperationspläne“ abgeschlossen werden,  Sanktionen heißen neu „Leistungsminderung“. Wie bisher können Sanktionen auf die Zuweisung zu Maßnahmen wie Coaching oder 1-Euro-Jobs folgen. 

Die alte Praxis der aufsuchenden Sozialarbeit durch Maßnahmeträger wird ins Gesetz aufgenommen. Die Landesarbeitsgemeinschaft der Jobcenter in NRW zeigt in Äußerungen von 2019 ihre Sicht auf Langzeitarbeitslose und wofür man das Geld für Eingliederungsleistungen nutzen könnte: „Die individuellen Handlungsfelder liegen in den Bereichen der Arbeits-, Lebens- und Gesundheitssituation und müssen Berücksichtigung finden, um eine Verbesserung der Situation in den genannten Bereichen zu erzielen. (…) Besonders Menschen mit psychischen und physischen Einschränkungen benötigen ganzheitliche und bedarfsgerechte Angebote zum Thema Lebensbewältigung, Gesundheitscoaching, familienbegleitende Hilfen, therapeutische Unterstützung oder psychologische Kurzintervention bei Krisen, Konflikten, Umgang mit Krankheiten etc., damit die Chancen auf eine Wiedereingliederung in das Arbeitsleben erhöht werden. (JC LAG NRW, S. 4f.)

Im Referentenentwurf wird vorgeschlagen, die Kommunikation mit den Kund/innen entweder im „physischen Gespräch“ zu suchen oder telefonisch oder „per Videokommunikation“ aufrecht zu halten, was wenig Raum für Empathie entstehen lässt.

Das erlaubte Vermögen bei Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung soll auf 10.000 Euro  angehoben werden. Auch hinsichtlich der Miethöhe soll es in der Grundsicherung nach SGB XII eine „Schonfrist“ von zwei Jahren ab dem erstmaligen Geldbezug geben. Sollte allerdings während der Karenzzeit umgezogen werden und das Sozialamt stimmt wegen der Miet- und Heizkostenhöhe nicht zu, werden nur die Kosten in „Höhe der angemessenen Aufwendungen als Bedarf anerkannt.“  Eine Pauschalierung, das heißt faktische Absenkung der Miethöhe für Verarmte, Alte und Kranke wird soziale Spannungen fördern. (Für Berlin gälte diese noch nicht, da Voraussetzung ein entspannter Wohnungsmarkt ist.) Alten, Kranken und Erwerbsgeminderten droht außerdem eine Aufrechnung von bis zu 30% (statt maximal 5% wie bislang) des Regelsatzes in Fällen, in denen sie beschuldigt werden, den „Rechtsanspruch willentlich herbeizuführen“ oder Einkommen oder Vermögen vermindert und „unwirtschaftlich“ gehandelt zu haben oder falsche Angaben gemacht zu haben – die Jobcenter handeln so als ihr eigener Inkassodienst.        

Was fehlt?

Alleinerziehende Frauen sowie Familien und ihre Kinder werden weiterhin ohne eine verlässliche, qualitativ hochwertige Betreuung ins Rennen um Jobs geschickt. Und weiterhin bekommen Frauen Ärger vom Amt, wenn sie den Namen des Erzeugers ihres Kindes nicht nennen. Die Handlungsweise gegenüber nicht-deutschen EU-Bürgerinnen bleibt restriktiv. In Notlagen haben sie oft keinen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen.

Zu den bislang gängigen Praktiken gehören auch Kontrolluntersuchungen durch Funktionsärzte der Bundesagentur für Arbeit, die als Mitwirkungspflicht unter Androhung der kompletten Leistungseinstellung wohl unangetastet bleiben wird. Ziel dieser Praxis ist es, strategische Krankschreibungen und Entscheidungen Hartz-IV-Berechtigter, Termine und Maßnahmen zu umgehen, zu ahnden und zu verhindern. 

Gerade Hartz IV-Berechtigte ohne Job, also ohne ein aufzustockendes Gehalt, den notwendigen Zusatzgroschen, können mit dem Regelsatz schon lange nicht mehr die realen Lebenshaltungskosten decken. Schon 2018 mussten 31.000 Haushalte im Schnitt 135 Euro Mietanteil im Monat aus dem Regelsatz bestreiten. Die Preise für Haushaltsenergie stiegen nach dem Verbraucherpreisindex für Berlin/Brandenburg im Vergleich zum Vorjahresmonat im Juli 2022 um 37,4% und die Nahrungsmittelpreise um 16,6%. Die Ausgaben für Essen und Trinken stellen mit 155,80 Euro (5,19 Euro pro Tag) den größten Posten des aktuellen Regelsatzes von 449 Euro dar, nämlich etwa 35%.  

Frieren und hart arbeiten

Egal, was die Politik in ihren Reden verkündet, Jobcenter haben ein zentrales Ziel: Die Kosten zu senken. Das wird sich besonders an den zwischen Bund und Kommunen geteilten Ausgaben für Miete und Heizkosten zeigen. Klamme Kommunen werden an Wohnkosten sparen, zumal hier deutliche Mehrbelastungen auf sie zukommen. Für eine wachsende Zahl von Arbeiter/innen bilden Phasen des Niedriglohnbezugs und der Erwerbslosigkeit einen festen Bestandteil ihrer Versicherungsbiografie mit negativen Auswirkungen auf die spätere Rente. Prekäre und irreguläre Arbeitsformen sowie unterbeschäftigtes Elend bei gleichzeitiger Überausbeutung werden also mit dem Bürgergeld bleiben. Dass anrechenbare Einkommen tatsächlich gesenkt werden und damit mehr Leute aus den nächsthöheren Lohngruppen des Niedriglohnsektors Bürgergeld-berechtigt wären, ist unwahrscheinlich. Durch den Transferbezug werden weiter die Lohnstückkosten niedrig gehalten und das kapitalistische System gestützt. Jobcenter bleiben Orte, in denen minimale demokratische Gepflogenheiten und Regeln nicht gültig sind. Ein neuer Name reicht nicht – Hartz IV muss weg.

 

BASTA! wird gemacht von Erwerbslosen und Beschäftigten mit geringem Einkommen. An drei Orten in Berlin bietet sie eine solidarische und mehrsprachige Beratung zu ALG II an.
Weitere Informationen: bastaberlin.de


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