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MieterEcho 425 / Juli 2022

Gut vernetzt im Kiez

Das Gesundheitskollektiv im Rollbergkiez setzt vor allem auf umfassende Beratungsangebote

Interview mit Patricia Hänel

MieterEcho: Wie ist das Gesundheitskollektiv entstanden?

Patricia Hänel: Entstanden ist es aus dem Medibüro, einer ehrenamtlichen Initiative von jungen Ärzt/innen und Studierenden, die sich vor allem mit der medizinischen Beratung und Versorgung von Geflüchteten und Menschen ohne Krankenversicherung beschäftigt haben. Das gab es in Berlin und Hamburg. Aus dieser Gruppe heraus entstand die Idee, die Probleme des medizinischen Versorgungssystems mit effektiveren Strukturen anzugehen, also auch zu professionalisieren. Da gibt es ja viele Beispiele etwa in Skandinavien, in Österreich oder Kanada, wo es in sozial besonders belasteten Stadtteilen Primärversorgungszentren gibt. Die Idee dabei ist, dass ärztliche, pflegerische, soziale und psychologische Beratung unter einem Dach stattfindet.

Wie kam es zu dem Standort im Rollbergkiez? 

Wir haben uns auf dem Berliner Sozialatlas jene Gebiete angeschaut, in denen es besondere Defizite gibt. Zur Auswahl standen letztendlich Gebiete im Wedding und in Neukölln. Wir sind dann auf die Projektgruppe für dieses Haus am Rollberg gestoßen, in dem ja auch noch andere Träger der Beratung und Versorgung aktiv sind.

Was muss man sich unter einem Gesundheitskollektiv vorstellen? Letztendlich basiert das System der ambulanten Versorgung in Deutschland doch auf der Einzelabrechnung von Leistungen mit den Krankenkassen.

An diesem System kommen wir nicht vorbei. Das GEKO ist als Verein Träger des Gesundheitszentrums hier. Er hat die Räume gemietet und unter anderem an zwei Arztpraxen untervermietet. Diese sind mit der Arbeit des gesamten Zentrums zwar eng verbunden, müssen aber aufgrund der Gesetzeslage als niedergelassene Ärzte mit individueller Kassenzulassung und -abrechnung arbeiten. Es bestehen aber auch Möglichkeiten, Menschen ohne Krankenversicherung zu behandeln.

Welche Angebote gibt es denn über die ärztliche Versorgung hinaus?

Es gibt Sozialberatung, psychologische Beratungen für Erwachsene, Kinder und Familien und Pflegeberatung. Dann haben wir unten das Café als Treffpunkt für Leute aus dem Kiez und als niederschwellige Kontaktstelle. Darüber hinaus gibt es Angebote im Stadtteil, also mobile Gesundheitsberatung im öffentlichen Raum oder in anderen Einrichtungen. Dazu kommen noch Sport- und Spielangebote für Kinder im Stadtteil, die oft auch ein Einstieg für gezielte gesundheitliche Beratung und Behandlung sind.

Wie wird diese Arbeit finanziert?

Das sind ganz unterschiedliche Quellen. Es gibt Mittel vom Land Berlin, von der Robert-Bosch-Stiftung, von der LottoStiftung, von den Quartiersräten Rollberg- und Flughafenstraße und vom Paritätischen Berlin. Mal mehr, mal weniger und wir müssen das auch immer neu beantragen. 

Der Rollbergkiez und einige angrenzende Sozialräume weisen eine extreme Sozialstruktur auf. Das betrifft unter anderem die hohen Quoten von Kinder- und Erwerbsarmut. Was bedeutet das für eure Arbeit?

Das bedeutet vor allem, dass viele Menschen, die zu uns kommen, über die medizinische Behandlung hinaus umfassende Beratung für ihre konkreten Probleme brauchen. Da geht es oft um Mieten, um Arbeit, um Transferleistungen. Das hängt ja stark mit der Gesundheit zusammen. Je mehr man mit solchen Problemen belastet ist, desto größer ist die Krankheitsanfälligkeit, denn Stress macht krank. Ferner sind hier viele Menschen mit nichtdeutscher Muttersprache, wir müssen also viel mit Übersetzungsprogrammen und Sprachmittler/innen machen. Wir müssen vielen auch die ganzen komplizierten Systeme der Gesundheits- und Sozialversorgung erklären, wo und wie man welche Anträge stellen kann und Ähnliches.

Neukölln gehört besonders bei der fachärztlichen Versorgung zu den Schlusslichtern in der Stadt. Kann das GEKO das mit seinen Angeboten wenigstens teilweise kompensieren?

Das ist hier nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Im Zentrum haben wir ja nur allgemeinmedizinische und kindermedizinische Praxen mit insgesamt drei vollen Arztstellen. Wir können auch nicht unbegrenzt wachsen, wenn wir unsere medizinische Versorgungsqualität aufrecht erhalten wollen. Letztendlich bräuchte es politische Entscheidungen, um die ambulante Versorgung grundlegend zu verbessern und das System der niedergelassenen Kassenärzte zu reformieren. Wenn wir noch Räume hier dazubekommen, würden wir gerne noch eine gynäkologische und eine Hebammenpraxis implementieren. Wünschenswert wäre  auch eine psychotherapeutische Praxis, aber das ist kaum zu stemmen und kostet richtig viel Geld für die Niederlassung.

Einige Teile von Nordneukölln haben sich in den vergangenen Jahren zu Hotspots der Aufwertung und Vertreibung ärmerer Anwohner/innen entwickelt. Welchen Einfluss haben  diese Prozesse auf eure Arbeit?

Wir merken das vor allem am starken Zuzug deutlich besser gestellter Menschen in diesen Kiez. Die kommen gerne zu uns, denn wir sind ein junges, modernes, digitalaffines Team und die nagelneuen Räume sind ja auch ganz schick. Das ist eigentlich gar nicht unsere Zielgruppe, aber natürlich wollen und können wir sie als stadtteilbezogenes Zentrum nicht ausschließen. Aber wir müssen aufpassen, dass die besonders Bedürftigen da nicht an den Rand gedrängt werden. Wir kooperieren mit vielen Gruppen und Initiativen hier im Kiez und wenn die uns Leute schicken, behandeln und beraten wir diese natürlich vorrangig.

Wer sind denn die wichtigsten Kooperationspartner hier im Kiez?

Wir sind sehr gut vernetzt. Bevor wir hier im Dezember 2021 eingezogen sind, haben wir ja vier Jahre lang intensive Netzwerkarbeit gemacht. Bei den staatlichen Institutionen kooperieren wir sehr gut mit dem Gesundheitsamt und dem Bezirksamt Neukölln, auch mit dem Jobcenter haben wir ein gemeinsames Projekt. Wir sitzen im Quartiersrat für den Kiez und arbeiten mit Initiativen wie dem Kiezanker und dem Verein Morus 14 zusammen, aber auch mit Moscheegemeinden, mit Pflegediensten, mit den Stadtteilmüttern, mit Elterngruppen und anderen Beratungsstellen. Noch ausbaufähig ist vor allem die Kooperation mit Schulen. Aber wir wollen keine Doppelstrukturen schaffen, unser Schwerpunkt liegt ganz klar bei der sozialen und psychologischen Beratung mit dem Fokus auf Gesundheit.

Bis vor wenigen Monaten spielte die Corona-Pandemie eine zentrale Rolle in der medizinischen Versorgung und der Gesundheitspolitik. Vor allem auch in der Prophylaxe, also bei der Impfkampagne. Wie hat sich das GEKO in dieser Extremsituation eingebracht?

Das war nicht wirklich eine Erfolgsgeschichte. Wir wollten eigentlich schon sehr früh raus in den Kiez gehen, um zu informieren und auch, um mobil zu impfen. Wir wollten auch Helfer/innen in anderen Initiativen für die Impfberatung qualifizieren, denn die haben ja den besten Draht zu ihren Leuten. Natürlich waren auch wir mit ganz viel Impfskepsis konfrontiert und da helfen große Plakate und markige Reden wenig weiter, da muss man intensiv mit den Menschen vor Ort sprechen. Aber das kostet nicht nur Zeit, sondern auch viel Geld, und das hatten wir nicht. Natürlich wurde in unseren Praxen geimpft, und wir haben auch einiges in unseren Social-Media-Kanälen gemacht. Aber wir haben nicht so viele Menschen erreicht, wie wir wollten und wie es nötig wäre. Vor allem unseren Plan, mobil zu impfen, konnten wir nicht umsetzen. Viele sind ja inzwischen geimpft, und diejenigen, die das abgelehnt haben, sind teilweise nur noch sehr schwer zu überzeugen. Aber wir versuchen es natürlich weiter in unseren Beratungen. 

Welche Möglichkeiten hätte denn der Bezirk, die Lebenssituation für ärmere Menschen in eurem Stadtquartier zu verbessern und was sind eure konkreten Forderungen?

Bei den großen Problembereichen hat der Bezirk nur wenig Möglichkeiten. Wir bräuchten vor allem durchgreifende Maßnahmen für bezahlbare Mieten. Der Bezirk kann vor allem in Bezug auf die Angebote für Kinder und Jugendliche aktiv werden, und das macht er ja in der letzten Zeit auch ganz gut, aber das müsste noch umfangreicher werden. Es muss auch geklärt werden, ob die Freiflächen im Sinne der neuen Anwohner/innen jetzt ganz schick und clean gestaltet werden, oder ob sich Jugendliche da einfach weiter locker treffen können. Ein großes Problem sind auch fehlende Kita-Plätze. Aber viele Stellschrauben sind eben beim Land oder auch bei der Bundespolitik.

Wir bedanken uns für das Gespräch.

Das Interview führte Rainer Balcerowiak.

 

Patricia Hänel ist Ärztin und im Gesundheitskollektiv für Koordination, Öffentlichkeitsarbeit und Gesundheitspolitik zuständig. Weitere Infos zum Projekt: geko-berlin.de


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