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MieterEcho 425 / Juli 2022

Früher sterben in Neukölln

Bei den meisten Sozial- und Gesundheitsindikatoren schneidet der Bezirk extrem schlecht ab

Von Heiko Lindmüller

In Bezug auf Neukölln ist manchmal von „Parallelgesellschaften“ die Rede. Was in der Regel als rechter Kampfbegriff, etwa gegen muslimische Communities, eingesetzt wird, könnte in Bezug auf die fortschreitende soziale Spaltung in Arm und Reich und die Vertreibung ärmerer Bevölkerungsteile aus attraktiven Bezirksteilen durchaus zutreffend sein.

Besonders einige Quartiere in Nordneukölln, etwa zwischen Landwehrkanal und der Weserstraße oder rund um den Richardplatz, wurden im vergangenen Jahrzehnt zu einem Hotspot der Immobilienspekulation. Über mehrere Jahre hatte Nordneukölln die höchsten prozentualen Mietsteigerungen in der ganzen Stadt, sozusagen als „Nachholeffekt“. Aber auch das arme Neukölln begegnet einem an vielen Orten. Nicht nur in der Plattenbaubausiedlung Gropiusstadt, sondern auch rund um die Werbellinstraße, zwischen dem immer hipper werdenden Schillerkiez und der Hermannstraße.  

Euphemistisch ist aber lieber von einem „bunten Bezirk“, der „Berliner Mischung“ oder einem „Bezirk für alle“ die Rede, der immer attraktiver werde. Eine Idylle, die nur durch unangenehme Vorkommnisse in einigen „Problemkiezen“ gestört wird, denen man mit einer Mischung aus Sozialarbeit und Repression zu Leibe rückt. 

Eines muss man dem Berliner Senat aber lassen. Er unternimmt zwar kaum etwas gegen die Armut und soziale Spaltung in der Stadt – aber er dokumentiert sie wenigstens einigermaßen kontinuierlich. Unter anderem mit dem „Monitoring Soziale Stadtentwicklung Berlin“ (vgl. MieterEcho 424/Mai 2022), das auf den Daten von 536 Planungsräumen (PLR) basiert. Erstellt wird es alle zwei Jahre von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen. Im aktuellen Monitoring wurden wieder die Quartiere ermittelt, in denen die soziale Benachteiligung besonders groß ist. 56 von 536 untersuchten Kiezen werden als „Gebiete mit besonderem Aufmerksamkeitsbedarf“ eingestuft – fünf mehr als im letzten Bericht von 2019. Wichtigste Indikatoren sind dabei die Zahl der Erwerbslosen, der Empfänger/innen von Hartz-IV-Leistungen und die Quote der Kinderarmut. Je höher die Ballung dieser benachteiligten Gruppen, desto wahrscheinlicher ist die Verfestigung der „Armutskieze“. Materiell bessergestellte Haushalte ziehen nach Möglichkeit in „bessere“ Stadtteile und die dort durch Aufwertung verdrängten Menschen ziehen in die Armutsviertel.

Verschiebungen im Bezirk

In Neukölln zeigt sich diese Entwicklung nahezu beispielhaft. In drei PLR haben sich die Sozialindikatoren dahingehend geändert, dass sie nicht mehr als „Gebiete mit besonderem Aufmerksamkeitsbedarf“ eingestuft werden. Das betrifft die Gebiete an der Lucy-Lameck-Straße (vormals Wissmannstraße), an der Hasenheide, am Goldhähnchenweg und am Park am Buschkrug. Dazu gekommen sind auf der anderen Seite die Braunschweiger Straße und Gropiusstadt Süd-Ost.

Unverändert kritisch ist die Situation für die PLR Wartheplatz, Silbersteinstraße, Rollberg, Glasower Straße, Treptower Straße Nord, Weiße Siedlung, Schulenburgpark, Buschkrugallee Nord, Jahnstraße, Gropiusstadt Nord und Gropiusstadt Nord-West. Natürlich ist die Einstufung der Quartiere anhand einiger weniger, gemittelter sozialer Indikatoren unzureichend, um die soziale Realität umfassend darzustellen. Denn die nach wie vor auf Hochtouren laufenden Verdrängungsprozesse, etwa im Rollberg-Kiez, werden damit ebenso wenig erfasst, wie die dadurch entstehenden, mitunter noch krasseren Formen der sozialen Spaltung innerhalb der Planungsräume, teilweise von einem Block zum nächsten.

Während das „Monitoring Soziale Stadtentwicklung“ nach seiner Veröffentlichung im April noch auf eine gewisse Resonanz stieß, ist eine weitere Publikation in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen worden. Dabei geht der „Gesundheits- und Sozialindex Berlin 2022“, der vom Referat Gesundheitsberichterstattung der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung (SenWGPG) erarbeitet wurde, wesentlich detaillierter auf die sozialen und gesundheitlichen Belastungen in den einzelnen Berliner Stadtquartieren ein. Anhand der dort zugrunde liegenden insgesamt 20 Indikatoren und dem daraus kumulierten Gesundheits- und Sozialindex (GESIx) belegt Neukölln mit gewissem Abstand erstmals den letzten Platz. 32,4% der Planungsräume des Bezirks haben einen positiven GESIx, 67,6% weisen einen negativen Wert auf. Eine starke Häufung von Räumen mit ungünstigem GESIx findet sich im nördlichen Neukölln. 22 der 37 betrachteten Planungsräume des Bezirks weisen eine Rangverschlechterung gegenüber der letzten Berechnung 2013 auf. Eine deutliche relative Verschlechterung im Vergleich zum Berliner Durchschnitt zeigt sich unter anderem bei der Anzahl der Grundsicherungsempfänger/innen, bei der Säuglingssterblichkeit und bei der vorzeitigen Sterblichkeit (vor Erreichen des 65. Lebensjahrs). Im Landesschnitt betrug diese 153,4 Personen pro 100.000 Einwohner/innen, in Neukölln waren es 183,2. Entsprechend ist die durchschnittliche Lebenserwartung für Neuköllner/innen auch 1,2 Jahre geringer als in Gesamtberlin.

Mehr Krankheiten, weniger Bildung 

Angesichts der signifikanten Unterschiede bei der Häufung bestimmter Krankheitsbilder kann das auch kaum verwundern. Das betrifft unter anderem Herzinsuffizienz, Angina Pectoris und chronische obstruktive Lungenkrankheiten, deren Vorkommen in Neukölln deutlich über dem Landesschnitt liegt. Dabei dürfte die strukturelle Unterversorgung mit niedergelassenen Fachärzt/innen eine wichtige Rolle spielen – und die ist ebenfalls eine Folge der multiplen sozialen Schieflagen im Bezirk. Denn für Fachärzt/innen ist Neukölln vergleichsweise unattraktiv, weil es hier weniger gutbetuchte Privatpatient/innen gibt.

Die Sozialindikatoren sprechen jedenfalls eine deutliche Sprache. Die Arbeitslosenquote liegt bei 14,3% (9,0 berlinweit). Der Anteil von erwerbslosen Jugendlichen (bis 25 Jahre), die Hartz-IV Leistungen beziehen, liegt rund 40% über dem Schnitt. Bei den Langzeiterwerbslosen (über 2 Jahre) sind es sogar über 50%, bei den Empfänger/innen von Grundsicherung im Alter ebenfalls. Eine Abweichung von 50% und mehr ist ferner bei den Personen ohne Ausbildungsabschluss und allgemein bei der Armutsrisikoquote zu verzeichnen.

Das Bezirksranking im GESIx spricht jedenfalls Bände. Auf einer Skala von –2 bis +2 belegt Steglitz-Zehlendorf trotz minimaler Verschlechterung (gegenüber 2013) mit +1,55 den Spitzenplatz. Es folgen Pankow, Charlottenburg-Wilmersdorf und Treptow-Köpenick, die jeweils eine positive Entwicklung verzeichnen. Danach klafft eine deutliche Lücke und es folgt Tempelhof-Schöneberg mit +0,18. An der Nulllinie bewegen sich Marzahn-Hellersdorf (mit positiver Entwicklung) und Lichtenberg (mit negativer Entwicklung). Die nächsten Plätze belegen Friedrichshain-Kreuzberg (-0,41), Reinickendorf (-0,47), Mitte (-1,03) und Spandau (-1,17) und schließlich im wahrsten Sinne des Wortes abgehängt Neukölln mit -1,63. 

Aber auch GESIx kann natürlich nicht alle Faktoren der sozialen Entwicklung abbilden. In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick in die Schulstatistik der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, die allerdings im GESIx keinen Eingang findet. Demnach besuchten im Schuljahr 2020/21 in Neukölln knapp 5.000 Schüler/innen ein Gymnasium, in Steglitz-Zehlendorf und Pankow waren es mehr als doppelt so viele. Bei den Schulabbrecher/innen, die den Schulbesuch ohne Abschluss beenden, sind die Unterschiede noch größer, allerdings andersrum. Deutliche Defizite verzeichnet der Bezirk auch bei der Ausstattung mit Kinder- und Jugendeinrichtungen. Zudem sollte man sich stets vergegenwärtigen, dass Neukölln eben nicht nur aus dem teils hippen und teils armen Norden besteht, es aber in den südlichen Teilen, etwa in Britz und Rudow, auch etliche kleinbürgerlich geprägte Siedlungsgebiete mit Einfamilienhäusern gibt – was auf die gesamtbezirklich ermittelten Sozial- und Gesundheitsindikatoren einen eher „schönenden“ Effekt hat.  


MieterEcho 425 / Juli 2022