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MieterEcho 428 / November 2022

Franziska Giffeys letzter Tanz

Die Wiederholung der Berliner Abgeordnetenhauswahl im Februar könnte zu erheblichen politischen Verschiebungen führen

Von Rainer Balcerowiak

In Berlin wird im Februar aller Voraussicht nach die Wahl zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) wiederholt. Zwar wird der Verfassungsgerichtshof des Landes sein endgültiges Urteil erst am 16. November (nach Redaktionsschluss) verkünden, doch in ihrer „vorläufigen rechtlichen Einschätzung“ ließen die Richter/innen im Rahmen einer Anhörung zu vier Wahlanfechtungsklagen am 28. September keinen Zweifel daran, dass angesichts der zahlreichen massiven Verstöße gegen die Landeswahlordnung und das allgemeine Wahlrecht nur eine vollständige Wiederholung einen Ausweg aus der entstandenen Lage ermöglichen werde, da das Wahlergebnis und die daraus resultierende Mandatsverteilung möglicherweise grob verfälscht worden sind. 

Bereits die Vorbereitung der Wahlen habe „den rechtlichen Anforderungen nicht genügt“, erklärte Gerichtspräsidentin Ludgera Selting. Zu den grundlegenden Anforderungen an eine demokratische Wahl gehöre zwingend, „dass jede wahlberechtigte Bürgerin und jeder wahlberechtigte Bürger am Wahltag die Möglichkeit hat, eine vollständige und gültige Stimme unter zumutbaren Bedingungen in Präsenz abzugeben“. Dies sei bei den Wahlen am 26. September 2021 nicht gegeben gewesen. Das ist vor allem eine schallende Ohrfeige für den damaligen Innen- und derzeitigen Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD), der als fachlich und politisch Verantwortlicher bei der Vorbereitung und Durchführung der Berliner Wahlen offensichtlich komplett versagt hat. 

Das Wahlgesetz sieht vor, dass nach einem entsprechenden Urteil die Wahlen nach maximal 90 Tagen wiederholt werden müssten. Der letztmögliche Termin wäre demnach der 12. Februar 2023. Da es sich rechtlich nicht um Neuwahlen, sondern eine Wahlwiederholung handelt, werden die seinerzeit eingereichten Wahlvorschläge für Direkt- und Listenkandidaten erneut zur Abstimmung stehen. Die aufwendige interne Nominierungsprozedur der Parteien entfällt also. Ob und in welchem Umfang auch die seinerzeit zeitgleich durchgeführten Bundestagswahlen in Berlin wiederholt werden, muss noch der Bundestag entscheiden. Aber wenn überhaupt, dann zu einem späteren Zeitpunkt.

Koalition hat wenig vorzuweisen

Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird das Ergebnis dieser Wahlen zu erheblichen Verschiebungen der Kräfteverhältnisse im Parlament und sogar zu einer neuen Regierungskonstellation führen. Denn die  Neuauflage der „rot-grün-roten“ Koalition steht auf der Kippe. Sie hat in ihrer rund einjährigen Amtszeit nur wenig vorzuweisen und entsprechend geringe Beliebtheitswerte. Das betrifft besonders die SPD und deren damalige Hoffnungsträgerin Franziska Giffey, der es überraschend gelungen war, die in Umfragen lange Zeit abgeschlagene Partei erneut an die Spitze zu führen. 

Doch ihre als zentraler Wahlkampfslogan formulierten „Fünf B‘s“ für die Hauptstadt (Bauen, Bildung, Beste Wirtschaft, Bürgernähe, Berlin in Sicherheit) haben sich längst als Sprechblasen entpuppt, an der strukturellen Dysfunktionalität Berlins hat sich in vielen Bereichen wenig bis nichts geändert. Die von ihr zur „Chefinnensache“ erklärte Wohnungsbauoffensive kommt nicht voran, das „Bündnis für bezahlbares Wohnen“ ist versandet. Der Lehrermangel an Berlins Schulen ist dramatisch wie eh und je, auch die Verwaltungen leiden weiterhin unter Personalmangel, kontraproduktiven Strukturen und mangelnder technischer Ausrüstung. Und auch bei zwei weiteren Berliner Großbaustellen, dem Verkehr und der Gesundheitsversorgung, rumpelt es gewaltig.

Giffeys Stern ist nicht nur in der Gesamtbevölkerung, sondern auch in ihrer Partei beträchtlich gesunken. Bereits kurz nach den Wahlen musste sie eine herbe Schlappe einstecken. Die von ihr ausdrücklich favorisierte Regierungsbildung ohne Beteiligung der Linken in einem Bündnis mit Grünen und FDP war weder bei den Grünen, noch in der SPD durchsetzbar. Doch das war verschmerzbar, weil sich die Linke in ihrer Orientierung auf unbedingte Regierungsbeteiligung als äußerst pflegeleicht erwies. Ihren einzigen zugkräftigen Wahlkampfschlager, die Unterstützung des erfolgreichen Volksbegehrens für die Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne, hat die Linke bereits kurz nach Beginn der Koalitionsverhandlungen faktisch entsorgt und in eine hinter verschlossenen Türen tagende Kommission ausgelagert, die irgendwann eine unverbindliche Empfehlung zum weiteren Umgang mit dem Volksentscheid abgeben soll. 

Das könnte die Linke bei der Wahlwiederholung teuer zu stehen kommen. Bei den Wahlen im September hatte sie im Gegensatz zum Bundesergebnis nur geringfügig Stimmen verloren, was zweifellos auf die Enteignungskampagne zurückzuführen war. Diesmal wird sie nach der erfolgten Kehrtwende beträchtliche Einbußen erleiden und auch etliche Mandate verlieren. Denn wer wird die Wahlversprechen dieser Partei überhaupt noch Ernst nehmen? Zumal sie auch bei den aktuellen Sozialprotesten angesichts explodierender Energie- und Lebensmittelpreise keine bzw. eine destruktive Rolle spielt. Im bisherigen Regierungslager können einzig die Grünen auf ein stabiles, möglicherweise sogar leicht besseres Wahlergebnis hoffen. Auf der anderen Seite steht den Koalitionsparteien ein recht blasses bürgerliches Lager gegenüber. Der CDU ist es bislang nicht gelungen, wahrnehmbare stadtpolitische Kontrapunkte zu formulieren. Ihr Landesvorsitzender und Spitzenkandidat Kai Wegner rangiert nur knapp über der Wahrnehmungsschwelle. Dennoch kann die CDU derzeit in Umfragen etwas zulegen, hat die SPD deutlich überholt und liegt gleichauf mit den Grünen. Gemunkelt wird, dass die CDU möglicherweise für den Wahlkampf noch ein Ass aus dem Ärmel zieht und einen profilierten Politiker aus dem Bund oder einem anderem Bundesland als Spitzenkandidaten präsentiert. 

Dagegen wird man bei der FDP eher besorgt in Richtung 5%-Hürde blicken, statt neue Höhenflüge anzustreben. Mit denen kann dagegen die AfD rechnen, der es – wie schon in der ersten großen Flüchtlingskrise – scheinbar mühelos gelingt, sich weit über ihre rassistische, neofaschistische Kernklientel hinaus als Sammelbecken der allgemeinen Unzufriedenheit und des Protestes gegen die Kriegs- und Sanktionspolitik und den drohenden sozialen Abstieg durch explodierende Preise zu präsentieren. Eine Entwicklung, der die Linke nichts entgegen setzen kann und will – da sie die Sanktionspolitik mehrheitlich unterstützt und auf strikter Abgrenzung gegen abweichende Positionen beharrt.

Krise wird Wahlkampf beherrschen

Ohnehin wird der jetzt beginnende Wahlkampf stark von der aktuellen Krise, deren weiterer Verlauf kaum absehbar ist, dominiert sein. Denn die Folgen für die Stadt sind schon jetzt dramatisch. Unzählige Menschen wissen schlicht nicht, wie sie in der kommenden Zeit ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen. Auch für Teile des Mittelstands sind die Entwicklungen gravierend bis existenzbedrohend, zumal Deutschland an der Schwelle zu einer kräftigen Rezession und einer Pleitewelle steht. Es zeichnet sich ein harter Verteilungskampf um zu knappe Energieressourcen im kommenden Winter ab, abgeschaltete Saunen in Schwimmbädern und runtergeregelte Heizungen in Behörden und Betrieben sind da nur ein kleiner Vorgeschmack. 

Der Zuzug von Flüchtlingen – nicht nur, aber vor allem aus der Ukraine – hat wieder die Dimensionen von 2015/16 erreicht und ein Ende ist nicht absehbar. Längst sucht die Stadt wieder nach Möglichkeiten für neue Notquartiere und Massenunterkünfte, etwa in Hangars auf dem ehemaligen Flughafen Tegel, in die ursprünglich bald die Beuth-Hochschule einziehen sollte. Dass sich dadurch die ohnehin extrem angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt zusätzlich verschärft und die Ressourcen für Bildung und Integration an ihre Grenzen kommen, liegt auf der Hand.

Und ausgerechnet in so einer extremen Krisenphase beginnt nun also ein Wahlkampf. Den Ausgang dieser Wahlwiederholung kann man nicht seriös prognostizieren. Wenig spricht allerdings dafür, dass Franziska Giffey weiterhin als Regierende Bürgermeisterin amtieren wird. Wenig spricht auch für eine Fortführung der jetzigen Koalition. Vieles deutet auf ein „schwarz-grünes“ (oder grün-schwarzes) Bündnis hin, eventuell mit der FDP im Boot. Sicher erscheinen deutliche Zuwächse für die AfD. Egal, wie es ausgeht: Auf die Stadt kommen extrem harte Zeiten zu. Und die Tatsache, dass so etwas wie eine breite soziale Protestbewegung nicht mal rudimentär zu erkennen ist, macht die Aussichten nicht gerade besser.


MieterEcho 428 / November 2022