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MieterEcho 427 / Oktober 2022

„Dann ist eine Schuldenbremse einfach unverantwortlich“

 

Interview mit dem Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck

Heiner Flassbeck fordert eine offensive staatliche Kreditpolitik, um die sozialen Folgen der Energiekrise und der Inflation abzumildern und hält es für eine gefährliche Illusion, dass man Russland mit Sanktionen in die Knie zwingen könnte. Ferner befürchtet Flassbeck, dass die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank zu einer kräftigen Rezession führen könne.

MieterEcho: Herr Flassbeck, trotz unterschiedlicher Einschätzung der Lage kann man wohl festhalten, dass sich Deutschland am Vorabend einer großen wirtschaftlichen und sozialen Krise befindet. Vielen Menschen droht angesichts der Explosion der Energie- und Lebensmittelpreise der Absturz in die Armut. Und für die bereits armen Haushalte verschärft sich die Lage. Was sollte der Staat jetzt unternehmen, um dieser Entwicklung strukturell entgegenzuwirken?

Heiner Flassbeck: Um dem wirklich entgegenzuwirken, müsste man die Ursachen angehen. Das ist zum Teil möglich, zum Teil aber auch nicht. Wir sind in eine kriegerische Auseinandersetzung verwickelt, bei der sich der deutsche Staat nun eindeutig positioniert hat und nicht bereit ist, seine Position zu ändern. Und deshalb werden viele mit sehr viel weniger Einkommen auskommen müssen, weil Preise massiv gestiegen sind. Der Staat kann versuchen, die Folgen zu lindern, und das versucht er ja mit seinen Entlastungspaketen. Aber das wird natürlich niemals richtig gelingen, weil gleichzeitig eine Rezession sozusagen vor der Tür steht. Da ist es fast unmöglich, das alles abzufedern.

Sehen Sie denn im jetzigen dritten Entlastungspaket wenigstens Schritte in die richtige Richtung? Oder sind das eher Glasperlen oder Nebelkerzen?

Das Ganze ist noch völlig offen, da völlig unklar ist, wie es finanziert wird. Die Koalitionsspitzen haben erklärt, das Paket habe ein Volumen von 65 Milliarden Euro. Aber soweit ich gesehen habe, wurde kein Wort dazu gesagt, wie das finanziert werden soll. Und das ist entscheidend. Für die Gesamtwirkung eines Pakets ist immer entscheidend, wie viel man macht und wie es gegenfinanziert wird. Wenn man sagen würde, das Geld werde vollständig am Kapitalmarkt aufgenommen, dann hätte das natürlich einen großen Effekt. Aber das hat Finanzminister Christian Lindner (FDP) ja praktisch ausgeschlossen, indem er versichert, dass die Schuldenbremse ab dem nächsten Jahr wieder gelten soll. Und daher kann man das im Moment nicht beurteilen, welche Steuern möglicherweise erhöht werden oder welche Ausgaben gekürzt werden sollen. Sicherlich gibt es in dem Paket einige richtige kleine Schritte, etwa bei Hartz IV. Wobei eine Erhöhung um 50 Euro sehr bescheiden ist. Aber für alle Maßnahmen gilt: Es ist völlig offen, woher das Geld kommen soll und ob das am Ende ausreicht.

Ich komme noch mal auf die „Schwarze Null” zurück, die ja jetzt wieder Kernelement der Austeritätspolitik werden soll.  Wie passt das denn überhaupt zusammen mit den enormen Kriegskosten und den Kosten für die soziale Abfederung?  Was passiert dann mit dem riesigen Investitionsstau bei Bildung, Digitalisierung und öffentlicher Infrastruktur? Von den Herausforderungen durch den Klimawandel ganz zu schweigen.

Das ist das grundsätzliche Problem, um das es eigentlich geht und das hinter allem steht: Was passiert mit den staatlichen Schulden? Und das geht noch weiter als das, was Sie gesagt haben. Es geht nicht nur um die unmittelbaren Bedarfe der Gesellschaft für Infrastruktur und Daseinsvorsorge. Es gibt auch das Problem – und das kann man nicht oft genug sagen – dass wir in unserer Gesellschaft zu viele Sparer und zu wenige Schuldner haben. Es kann immer nur in dem Umfang gespart werden, in dem andere sich verschulden, sonst bricht die Wirtschaft schlicht zusammen. Und das will man in Deutschland nicht begreifen, und das will vor allem Herr Lindner nicht begreifen. Und solange er das nicht begreift, kann er keine richtige Finanzpolitik machen.

In Deutschland sparen die privaten Unternehmen und die privaten Haushalte. Und deswegen gibt es nur einen, der sich verschulden kann, und das muss der Staat sein. Bisher haben wir das Problem dadurch „elegant gelöst”, dass wir die deutsche Leistung auf Leistungsbilanzüberschüssen aufbauen, was heißt, dass wir erwarten, dass sich das Ausland verschuldet. Aber darauf können wir ja nicht immer weiter bauen, dass die anderen Länder sich noch mehr bei Deutschland verschulden, als sie es ohnehin jedes Jahr tun. Und deswegen muss man dieses Problem endlich in Brüssel, Paris und Rom deutlich ansprechen und Deutschland sagen: So geht das nicht. Entweder die Unternehmen müssen sich wieder verschulden, wie das früher der Fall war, etwa in den 1960er Jahren. Oder aber der Staat muss eben dauernd Schulden machen. Und dann ist eine Schuldenbremse einfach unverantwortlich.

Welche Möglichkeiten gäbe es denn, die öffentlichen Haushalte vor allen Dingen auf der Einnahmenseite zu stärken und zu stabilisieren? In der derzeitigen Regierungskoalition sind ja Instrumente wie Reaktivierung der Vermögenssteuer oder eine durchgreifende Reform der Erbschaftssteuer kaum vorstellbar.

Einige Dinge haben Sie jetzt schon genannt. Das sind die beiden wichtigsten, die man sofort umsetzen könnte und schon lange hätte umsetzen können, Vermögenssteuer und  Erbschaftssteuer. Aber das ist eine politische Tabuzone, weil im Koalitionsvertrag sozusagen schon  im ersten Satz festgelegt worden ist: Keine Steuererhöhung. Und dann muss man eben Schulden machen. Es geht überhaupt kein Weg daran vorbei. Man kann nicht sagen, dass es weder neue Schulden noch Steuererhöhungen gibt. Das ist völlig absurd angesichts der Herausforderungen, vor denen der Staat steht.

Sie haben ja in den vergangenen Wochen und Monaten des Öfteren dargelegt, dass Sie die in den letzten Monaten stark gestiegene Inflation als ein vorübergehendes Phänomen ansehen und vor allen Dingen die Reaktion der Europäischen Zentralbank (EZB) in Form der Erhöhung der Leitzinsen für eher kontraproduktiv halten. Wie sollte denn die EZB in der aktuellen Lage reagieren, zumal Deutschland bei der Zinspolitik ja kaum eigene staatliche Möglichkeiten hat?

Nein, Deutschland kann da nichts machen. Aber Deutschland könnte natürlich seinen Einfluss geltend machen und bei der EZB darauf drängen, dass die EZB jetzt nicht auch noch die Rezession verschärft. Es gibt in der Geldpolitik eine lustige – oder besser befremdliche – vorherrschende Meinung. Man macht einfach ein bisschen weniger Geld und dann gehen einfach die Preise wieder ein bisschen runter. Dazu gehört der Irrglaube, dass die Preise so stark gestiegen seien, weil man vorher zu viel Geld in die Märkte gepumpt hat. Das ist alles Unsinn. Die Preise steigen, weil es Knappheiten gibt und weil es Spekulation auf steigende Preise gibt. Das sind die Gründe für die Inflation. Und die sind bislang alle temporär. Das heißt, wir werden im nächsten Jahr – wenn nicht neue Schocks passieren,  die derzeit nicht vorhersehbar sind – weniger stark steigende Preise erleben. Deswegen sind auch Einmalzahlungen vom Staat jetzt völlig angemessen, um die größten Härten bei den ärmeren Haushalten abzufangen. Aber die Öffentlichkeit hat sich ja nun auf die Inflation so eingeschossen, dass die EZB umgefallen ist und nun auch auf Restriktionen setzt, was die Lage nur verschärft, ohne die Preisentwicklung zu bremsen. Stattdessen droht jetzt eine Rezession, die auch mehr Arbeitslosigkeit bringt. Das ist alles völlig kontraproduktiv. Und im nächsten Jahr wird die EZB das dann wieder zurücknehmen müssen. 

Also Sie sehen die derzeitige Inflation nicht als gefährlich für das wirtschaftliche und soziale Gefüge an? 

Gefährlich werden die Preissteigerungen erst dann, wenn es wirklich eine Preisspirale gibt. Wenn die Löhne stark steigen würden und die Preise treiben und die Preise treiben dann weiter die Löhne, wie wir das jetzt in der Türkei zum Beispiel sehen, mit 80% Inflation. Das ist gefährlich, das muss die Geldpolitik stoppen. Aber davon ist in Europa überhaupt nicht die Rede. Denn die Löhne in Europa steigen ganz moderat. Also da ist überhaupt keine Gefahr. Und deswegen ist es schon verrückt, dass die EZB die Zinsen erhöht. Der Staat gibt Geld aus, um die Wirtschaft anzuregen und die EZB erhöht die Zinsen, um die Wirtschaft niederzuknüppeln. Wie absurd.

Und Sie sehen also die reale Gefahr einer Deflation in den kommenden Jahren?

Wir waren in der jüngeren Zeit ja bereits sehr nah an einer Deflation, einer Art unterdrückten Deflation, aber das war nichts Dramatisches. Eine echte Deflation würde erst eintreten, wenn die Löhne anfangen absolut zu sinken. Aber wir haben in den letzten 20 Jahren durchweg zu geringe Lohnsteigerungen gehabt, und deswegen gab es auch keine vernünftige Nachfrageentwicklung in den meisten europäischen Ländern. Außer in Deutschland, das mit seinen Leistungsbilanzüberschüssen immer noch eine Politik macht, die darauf hinausläuft, sich zu Lasten der Nachbarn gesundzustoßen – anstatt selbst darüber nachzudenken, wie man die Nachfrage ankurbelt.

Das gängige Narrativ ist derzeit, dass man das ganze Dilemma dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu verdanken hat, was ja einer näheren Betrachtung kaum standhält. Aber dass der Krieg als kräftiger Brandbeschleuniger der Krise gewirkt hat, liegt auf der Hand. Wie schätzen Sie denn in diesem Zusammenhang die deutsche Sanktionspolitik gegen Russland ein?

Der Krieg an sich hätte meiner Einschätzung nach fast überhaupt keine Auswirkung, wenn man nicht diese Politik der Sanktionen ergriffen hätte. Man glaubt ja in dieser Regierung,  mit finanziellen und anderen Sanktionen Russland von hier aus bekämpfen und in die Knie zwingen zu können. Ich halte das für eine grandiose Illusion. Bisher ist das Gegenteil eingetreten: Russland hat Mehreinnahmen, weil die Gas- und Ölpreise so schnell gestiegen sind. Also das ist eine ziemlich verrückte Politik. Man verhängt Sanktionen, und dem Sanktionierten geht es besser als vorher. 

Es ist ohnehin eine grandiose Illusion zu glauben, man könne als einzelnes Land oder als Europa die Weltmärkte bewegen. Oder dafür sorgen, dass Russland auf den Weltmärkten kein Öl und kein Gas mehr verkaufen kann. Das kann man nicht, weil die „ganze Welt” in dieser Auseinandersetzung eben nicht hinter Europa und den USA steht. Man sieht es ja: Große Teile der Welt, also die große Mehrheit der Staaten stehen an der Seite Russlands oder verhalten sich neutral und kaufen natürlich weiter russisches Gas und Öl, und wir kaufen dann vielleicht über Indien oder sonst wo auch wieder russisches Gas oder Öl, natürlich aber viel teurer. 

Eine letzte Frage: Für viele Menschen in Deutschland geht es ja jenseits von grundsätzlichen geopolitischen und strukturellen Fragen der Finanzpolitik schlicht um die Frage, wie sie die explodierenden Kosten schultern sollen. Ich habe schon die ersten Abrechnungen gesehen, wo sich die Energiepreise auch für kleine Betriebe vervierfacht haben. Könnten Sie denn ein kurz- und mittelfristiges Sozialprogramm skizzieren, um entsprechende Ängste und reale Notsituationen abzumildern?

Also zunächst müssen wir uns im Klaren sein: Wenn jetzt eine Rezession kommt, wird das alles noch schlimmer. Dann haben wir Rezession und starke Preissteigerungen in bestimmten Bereichen, wie etwa Energie. Und ansonsten müsste der Staat sehr viel mehr tun. 65 Milliarden Euro wie beim jetzigen Entlastungspaket reichen nicht aus. Vor allem dann nicht, wenn nicht klar ist, woher das Geld kommt. Macht man die berühmte Gegenfinanzierung, wird die Wirtschaft sicher in eine tiefe Rezession geraten. Ansonsten muss man seine Politik grundsätzlich überdenken. Es geht eben nicht alles. Man kann nicht einfach wie unsere Außenministerin ankündigen, dass man eine Atommacht wie Russland mit Sanktionen „ruinieren“ wolle – ohne darüber nachzudenken, was danach kommt. Das geht einfach nicht. Es gibt Grenzen für das, was ein Land wie Deutschland machen kann, auch für das, was Europa machen kann. Und das müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Rainer Balcerowiak.

 

Der Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck war 1998/99 Finanzstaatssekretär von Oskar Lafontaine. Anschließend war er als Chefvolkswirt bei der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) in Genf und als Herausgeber der Online-Zeitschrift Makroskop tätig.


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