Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 428 / November 2022

Aufstieg und Fall einer Neuköllner Ikone

Der Rollberg war über 130 Jahre Standort der Kindl-Brauerei. Jetzt gehört das Areal einem anthroposophischen Projektentwickler

Von Rainer Balcerowiak

Das Gelände der alten Kindl-Brauerei am Rollberg gehört zu den markantesten Arealen von Nord-Neukölln. Aus der Industriebrache rund um das mächtige Sudhaus hat sich eine Art urbanes Zentrum mit zahlreichen Kultur- und Sozialinstitutionen entwickelt. Das Areal der 2005 geschlossenen Brauerei gehört seit 2015 der Terra Libra Immobilien GmbH, einer Tochterfirma der anthroposophisch orientierten Schweizer „Edith Maryon-Stiftung“, die in Berlin u.a. auch Grundstückseigentümer des alten Delphi-Kinos und des Weddinger Rotaprint-Geländes ist. Anspruch für das Brauerei-Gelände sei es, „eine der großen Industriebrachen in Neukölln langfristig für soziale, kreative und ökologische Nutzungen zur Verfügung zu stellen und zu sichern“ . 

Das Gelände solle „zu einem attraktiven Ort der Arbeit und Begegnung werden und einen Beitrag zu einer guten Nachbarschaft im Rollbergkiez leisten“ und ein „stadträumlich zentraler Ort werden, der zur Identifikation im Quartier wesentlich beiträgt“.  

Zum Konzept gehört auch, dass das früher weitgehend  abgeriegelte, auf einem Plateau gelegene Brauereigelände mit einer Treppe, die 8 Meter Höhenunterschied überwindet,  mit dem anliegenden Wohngebiet verbunden ist. Damit schaffe man „eine fußläufige Querverbindung im Quartier, die gleichzeitig Flächen freilegt, die bislang als blinder Fleck weiträumig umkreist werden mussten“, heißt es dazu bei in der Selbstdarstellung.  In einigen an das Areal grenzenden Blöcken sieht man deutlich, welchen Aufwertungs- und Verdrängungsdruck diese „alternative Insel“ im Armutskiez Rollbergviertel entfaltet hat. Schicke, modernisierte Altbauten, offensichtlich hochpreisige Neubauten und hippe Gaststätten finden sich – im krassen Kontrast zu den ebenfalls angrenzenden Blöcken an der Werbellinstraße und in Richtung Hermannstraße. 

Bereits 2011 hatten Schweizer Investoren das Sudhaus und andere denkmalgeschützte Bauteile erworben und dort das „KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst“ gegründet. Unter dem Sudhaus befindet sich eine kleine Privatbrauerei. Die unter dem Namen VOLLGUT firmierende Projektentwicklung und -realisierung ist noch nicht beendet. Weitere Neu- und Aufbauten entstehen auf dem knapp 14.000 qm großen Areal, auch die Gestaltung der Freiflächen ist noch nicht abgeschlossen. Derzeit genutzt wird das Areal unter anderem vom queeren Club „SchwuZ“, einer Kart-Bahn, dem Netzwerk „Berlin Global Village“, dem Gesundheitskollektiv sowie diversen sozialen Trägern und Künstlergruppen.

Eine Brauerei als Selbsthilfe

Auf dem Areal erinnern noch ein paar Erinnerungstafeln daran, dass sich hier einst eine der größten Braustätten Deutschlands befand. Die Geschichte begann 1872, als sich eine Gruppe von acht Gastwirten aus Neukölln (das damals noch Rixdorf hieß) zusammenfand, um die „Vereinsbrauerei Berliner Gastwirte zu Berlin AG“ zu gründen und auf dem Rollberg vor den Toren Berlins eine moderne Braustätte zu errichten. Gut ein Jahr später, am 19. Juli 1873, wurde die Brauerei und auch der öffentliche Ausschank eröffnet.

Die Intention der Gastwirte war klar. Sie wollten nicht länger der Preispolitik der dominierenden damaligen Brauereien hinnehmen, welche die Bierpreise immer weiter in die Höhe trieben. Und sie setzten auf eine neue Produktstrategie. In der Brauerei sollte nicht das allmählich aus der Mode gekommene obergärige Bier hergestellt werden, sondern untergäriges Bier, das sich in der rasant wachsenden Stadt immer größerer Beliebtheit erfreute und auch den Biergewohnheiten der meisten Zuwanderer aus allen Teilen Deutschlands entsprach. Für die Bereitung untergäriger Biere, zu denen u.a. Pils, Lager, Helles, Export und Schwarzbier gehören, waren allerdings tiefe Gär- und Lagerkeller notwendig, da kühle Temperaturen gewährleistet sein mussten. Derartige Keller konnten nicht überall in der Stadt gebaut werden, in Spreenähe war dafür das Grundwasser viel zu hoch und der Untergrund zu sandig. „Aus diesem Grund befinden sich die meisten Berliner Brauereien, die im 19. Jahrhundert entstanden, auch auf den Hochflächen im Norden und Süden der Stadt: in Prenzlauer Berg, Schöneberg, Kreuzberg oder in Neukölln auf dem Rollberg“. Hier sei nicht nur Platz für die tiefen Keller, sondern auch sauberes Grundwasser vorhanden gewesen, erläutert Ingo Landwehr vom „Verein Berliner Unterwelten“ in einer Veröffentlichung von VOLLGUT. 

Einen weit über Berlin hinausgehenden Ruf erwarb sich am Rollberg der Braumeister Carl Labitzke, der von 1891 bis 1941 im Amt war. Er experimentierte mit verschiedenen Hefen, Hopfen- und Gerstenmalzsorten und kreierte schließlich das „Berliner Kindl“, welches nach Pilsner Brauart zubereitet wurde und einen regelrechten Siegeszug verzeichnete. Diese weit über Neuköllns Grenzen hinaus bekannte Sorte verhalf der Brauerei Anfang des Jahrhunderts zu ihrem neuen Namen „Berliner Kindl Brauerei Aktiengesellschaft“. Bald brummte das Geschäft. Auf dem Rollberg wurden am Wochenende bis zu 10.000 Gäste mit 40 Hektolitern Bier versorgt. Die Kindl Brauerei AG übernahm in nur wenigen Jahren 20 kleinere Brauereien in Berlin und Umgebung und wuchs bis zum Zweiten Weltkrieg zu einer der vier größten Brauereigruppen Deutschlands. Auf dem Rollberg entstand 1930 ein neues Sudhaus, das seinerzeit als eines der modernsten der Welt galt.

Marktführer in der Stadt blieb allerdings die Schultheiss Brauerei, deren Vorläufer bereits 1842 ihre erste Braustätte in Berlin eröffneten. Die Konkurrenz war augenfällig. Während z.B. Neukölln von Kindl-Kneipen dominiert wurde, beherrschte Schultheiss den Markt u.a. in Kreuzberg, im Wedding und in Moabit, wo es ebenfalls große Braustätten gab.

Kindl überstand sowohl die Weltwirtschaftskrise als auch die Nazi-Zeit weitgehend unbeschadet, da man den engen Schulterschluss mit dem Regime suchte. Bereits 1933 wurde die Neuköllner Brauerei ein „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“. Auf einem alten Brauereigelände in Oranienburg entstand nach dessen Verkauf das erste Konzentrationslager. Bis kurz vor Kriegsende 1945 konnte die Kindl-Brauerei ihre Produktion auf dem Rollberg in Betrieb halten, vor allem durch den Einsatz zahlreicher Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter.     

Niedergang des Kindl-Imperiums 

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann der Niedergang des Kindl-Imperiums. Das Inventar einiger Braustätten ging als Reparationszahlung an die Sowjetunion. Durch die Teilung Deutschlands und vor allem Berlins verlor Kindl wichtige Absatzmärkte und Braustätten in Ostberlin, die in den VEB Getränkekombinat eingegliedert wurden. Auch die wichtige Braustätte in Potsdam konnte nicht mehr betrieben werden. Die Expansion nach Norddeutschland konnte das nicht kompensieren. Auch das Ausschankgeschäft stagnierte, die klassische Berliner Eckkneipe wurde im Laufe der Jahre allmählich zum Auslaufmodell. Nach dem Fall der Mauer beschleunigte sich diese Entwicklung. Die zum Dr. Oetker-Konzern gehörende Radeberger-Gruppe übernahm peu á peu fast alle relevanten Berliner Brauereien, außer Kindl und Schultheiss u.a. auch den Ostberliner Marktführer Berliner Pilsner. Die meisten Braustandorte wurde geschlossen, 2005 schließlich auch die Kindl-Brauerei auf dem Rollberg – 133 Jahre nach ihrer Gründung. Die Produktion aller Berliner Kernmarken der Radeberger-Gruppe wurde auf den Standort in der Indira-Gandhi-Straße im Bezirk Lichtenberg konzentriert, der als „Berliner-Kindl-Schultheiss-Brauerei“ firmiert.

Der Bezirk reagierte entsetzt auf das Ende der Brautradition auf dem Rollberg. „Die Schließung bedeutet einen Identitätsverlust für Neukölln“, sagte der damalige Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) dem Tagesspiegel am 2. Februar 2005. Kindl und die Stadt Rixdorf seien 133 Jahre zusammen alt geworden. „Wird künftig Kindl in Hohenschönhausen gebraut, steht noch Kindl drauf, aber es ist keins mehr drin.“ Noch schlimmer sei die „verheerende psychologische Wirkung für den Kiez“, in dem 40% arbeitslos sind und jeder dritte unter der Armutsgrenze lebe. Die Brauerei-Schließung symbolisiere „Endstation Neukölln, rette sich, wer kann“. Es kam bekanntlich anders, denn in den folgenden Jahren begann der „Neukölln-Hype“ und die Verdrängung der alteingesessenen Anwohner nahm Fahrt auf. Kräftig befeuert auch von Buschkowsky. 


MieterEcho 428 / November 2022

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