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MieterEcho 421 / Dezember 2021

Jede/r fünfte Berliner/in von Einkommensarmut betroffen

Adäquate und nachhaltige Reaktionen auf soziale und ökologische Krisen sind selten, die Berliner Parteien versprechen sie nicht einmal

Interview mit Hermann Pfahler

Die Landesarmutskonferenz Berlin (lak) fordert vom neuen Senat ein ambitioniertes soziales Wohnungsbauprogramm als Schlüssel zur Überwindung von Wohnungsnot und Obdachlosigkeit.   

MieterEcho: Berlin gilt gemeinhin als deutsche Hauptstadt der Armut. Würden Sie diese Einschätzung teilen?

Hermann Pfahler: Der Begriff Hauptstadt der Armut sagt mir erst mal nicht so viel. Fakt ist, dass in Berlin nahezu jede/r fünfte Bewohner/in von Einkommensarmut betroffen ist, und 27% aller Berliner Kinder – das sind 162.000 – leben in Hartz IV-Haushalten. Hinzu kommen noch die Kinder, deren Eltern nur über ein Einkommen knapp über dem Hartz-IV-Satz verfügen. Das ist für uns als Landesarmutskonferenz (lak) ein untragbarer Zustand. Arm oder von Armut bedroht zu sein, grenzt Menschen massiv aus. Gerade in Berlin steht Armut vielen Kindern und ihrer Entwicklung im Wege. Viel zu viele Menschen sind von Wohnungslosigkeit und prekärer Beschäftigung betroffen. Mit Sorge sieht die lak, dass die Corona-Kosten zulasten dieser Personenkreise gehen könnten und viele Ansätze der letzten Regierungskoalition, die soziale Lage der von Armut betroffenen oder bedrohten Menschen zu verbessern, wieder versanden.

Die rot-rot-grüne Landesregierung ist vor fünf Jahren mit dem Versprechen angetreten, die strukturelle Armut effektiv zu bekämpfen. Inwieweit hat sie dieses Versprechen eingelöst?

Die ressortübergreifende Strategie zur Bekämpfung von Armut und zur Verbesserung von Teilhabe muss nach wie vor verstärkt werden, da in Berlin weiterhin fast jede/r Fünfte unter anderem von Einkommensarmut betroffen ist. Eine landesweite Strategie gegen Armut, die mit einer integrierten Armuts- und Sozialberichterstattung laufend überprüft wird, muss endlich entwickelt und umgesetzt werden. Sie wurde im letzten Koalitionsvertrag bereits angekündigt und versprochen. Im Bereich der Kitas, Schulen, Gesundheitsdienste, Jugendämter und der Verwaltung allgemein gibt es noch viel nachzuarbeiten.

Einer der wesentlichen Armutsfaktoren ist die Lage auf dem Wohnungsmarkt. 50.000 Menschen gelten als wohnungslos, bis zu 10.000 leben mehr oder weniger durchgehend auf der Straße. Warum ist es nicht gelungen, merkliche Fortschritte bei der Überwindung dieser Zustände zu erzielen?

Es wäre wesentliche Aufgabe des Senats gewesen, den Bau von bezahlbaren Wohnungen voranzutreiben. Hier ist der Senat jedoch deutlich hinter den eigenen Sollzahlen zurückgeblieben. Beim Wohnungsneubau müssen alle Akteure in die Pflicht genommen und neue hinzugewonnen werden und nicht nur die städtischen Wohnungsbaugesellschaften. Und es muss Anreize geben, um den Sozialbau anzukurbeln. Außerdem muss Neubau besser kommuniziert werden, um eine größere Akzeptanz bei Anwohner/innen und Nachbar/innen zu erreichen.

Im Bereich der Obdachlosigkeit wird seit Jahren über „Housing First“ diskutiert. Ein in anderen Ländern längst erprobtes und bewährtes Instrument zur Überwindung der Obdachlosigkeit, bei dem die quasi bedingungslose Vergabe einer Wohnung als Grundlage einer weiteren sozialen Reintegration angesehen wird. Doch in Berlin ist man damit über einige sehr kleine Modellprojekte nicht hinausgekommen. Woran hapert es?

Im Wesentlichen hapert es an den nicht vorhandenen und für die Menschen bezahlbaren Wohnungen. „Housing First“ ist ein wichtiges Instrument, das ja auch fortgeführt und etabliert werden soll. Aber wir haben in Berlin auch einen großen Bereich an betreuten Wohnformen, wo die Menschen schon in Wohnungen leben. Nur fehlt es an Wohnraum, in den die Betroffenen nach Ende der Betreuung einziehen können. Die Wohnungsnot wird nur zu beheben sein, wenn die Ressource Wohnung ausreichend vorhanden ist.  

Einige Wochen vor der Wahl hat die Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Die Linke) angekündigt, für die kommenden Jahre ein Programm zur Überwindung der Obdachlosigkeit zu entwickeln. Aber was hat sie denn in den vergangenen Jahren in dieser Frage getan? War diese Ankündigung nur Wahlkampfgeklingel?

Das möchte ich ihr nicht unterstellen. Sie hat in der Notversorgung von Obdachlosen sehr viel bewegt und auch erreicht. Und sie hat mit den Strategiekonferenzen die ganze Breite der Fachleute und auch Betroffene bei den Planungen einbezogen und Strategien zur Umsetzung entwickelt. Dazu gehören auch Überlegungen zur Überwindung der Obdachlosigkeit. Eigentlich müsste es heißen, der Wohnungsnot. Denn vor der Obdachlosigkeit steht in der Regel der Wohnungsnotfall und die Wohnungslosigkeit. Um die Wohnungsnot zu überwinden, bedarf es jedoch ressortübergreifender Initiativen aller Senats- und Bezirksverwaltungen. Dazu werden wir von der lak Berlin gerne unsere Unterstützung und Ermutigung geben.

Außer der offiziellen Wohnungslosigkeit gibt es auch einen verbreiteten Graubereich.  Dazu zählen überbelegte Wohnungen, aus den Einkünften kaum noch zu finanzierende Mietkosten bis hin zu jungen Erwachsenen, die sehr lange im Elternhaushalt verbleiben müssen, weil es schlicht keine Wohnungen für sie gibt. Liegen Ihnen dazu Zahlen vor?

Nein, hierzu liegen uns keine Zahlen vor. Die meisten Zahlen liegen mit Sicherheit vor, aus den einzelnen Sozialräumen, sie sind aber nicht zusammengeführt und bewertet. Dazu fordert die lak Berlin seit Jahren die „integrierte Sozialberichterstattung“, die ja auch im letzten Koalitionsvertrag für Berlin festgeschrieben wurde. 

Als zweite Säule der strukturellen Armut gibt es in Berlin einen extrem hohen Anteil an prekär Beschäftigten und Solo-Selbständigen, die ständig davon bedroht sind, ihre Existenzgrundlage zu verlieren. Besonders in den Hochzeiten der Corona-Pandemie ist dieses Problem deutlich geworden. Auf der anderen Seite gehören gerade Bereiche mit hohem Prekarisierungsrisiko, wie Tourismus und neue Dienstleistungen à la „Gorillas“ und „Lieferando“ zu den Boom-Branchen der Stadt. Wie könnte man da gegensteuern?

Wie ich der Presse entnehme, ist die Anhebung des Mindestlohns von der zukünftigen Bundesregierung fest eingeplant. Außerdem bieten die Gewerkschaften Unterstützung. Leider ist das Bewusstsein der Beschäftigten in diesen Dienstleistungsbereichen, was die Organisierung in Gewerkschaften angeht, noch unterentwickelt. Auch Solo-Selbständige haben ja die Möglichkeit sich zu organisieren.

Das Thema Geflüchtete ist ein wenig in den Hintergrund gerückt. Welche Fortschritte hat denn die Integration von Geflüchteten auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt in den letzten Jahren gemacht?

Auch hier gibt es noch viel zu tun. Wir von der lak Berlin fordern, dass öffentliche Verwaltungen interkulturell ausgestattet werden, um die Kommunikationshürden bis hin zur Leistungsverweigerung gegenüber Kund/innen, die geringe Deutschkenntnisse haben, abzubauen. Landesprogramme zur Integrationsförderung müssen, auch für Menschen ohne Ansprüche nach dem Sozialgesetzbuch, ausgebaut und dabei die Arbeitsvermittlung und Beratung sowie (Sprach-)Förderung von EU-Bürger/innen in prekären Lebenssituationen einbezogen werden.

Die Existenzsicherung aller in Berlin lebenden Menschen ist zu gewährleisten, das schließt Überbrückungsleistungen für Unionsbürger/innen in Notlagen ein, sofort und unbürokratisch.

In Berlin gab es in den vergangenen Jahren Protestbewegungen, besonders Wohnungsfragen betreffend. Doch herausgekommen ist recht wenig. Der Mietendeckel ist gescheitert, das erfolgreiche Enteignungsvolksbegehren soll nun mit einer Expertenkommission verschleppt werden. Haben soziale Bewegungen und Institutionen kein erfolgversprechendes Konzept für ihren Widerstand? Oder hat man gegen die herrschende Politik schlicht keine Chance?

Wir von der lak Berlin sind ein gutes Beispiel dafür, dass Initiativen durchaus erfolgreich arbeiten und auch Erfolge erreichen können. Aber man braucht einen langen Atem, denn es sind dicke Bretter, die es zu durchbohren gilt.

Berlin wird voraussichtlich auch in den kommenden fünf Jahren von einer rot-rot-grünen Koalition regiert. Was erwarten Sie von dieser Regierung, was müsste sofort angepackt werden?

Eine bürgernahe Verwaltungsreform, Sozialwohnungsneubau, die Beseitigung von Kinderarmut, Integration von Geflüchteten und EU-Bürger/innen und Nutzung ihrer Ressourcen, armutsfeste Löhne, Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur etwa in den Bereichen Bildung und Gesundheit. 

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Rainer Balcerowiak.

 

Hermann Pfahler ist einer der beiden Sprecher/innen der Landesarmutskonferenz Berlin. Vor seinem Eintritt in den Ruhestand arbeitete er als Experte für Obdachlosigkeit bei der Berliner Diakonie.


MieterEcho 421 / Dezember 2021