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MieterEcho 418 / Juni 2021

Wohnungsbau als Fahne

Die Berliner Siedlungen des Neuen Bauens: Eine Frage des Willens und der Organisation

Von Simone Hain

Aus heutiger Sicht und im Vergleich, etwa zum „Roten Wien“, ist an der Berliner Wohnbaufurore der späten zwanziger Jahre einiges besonders bemerkenswert.
Im Gegensatz zum austromarxistischen Wien haben wir es in Berlin mit einem klaren Fall von „Bewegungssozialismus“ zu tun, dessen wichtigstes Argument bei aller Wirtschaftlichkeit auch die Ästhetik ist. Der hiesige Aufbruch in „sieben fette Jahre“ der Bauproduktion, wie es Bruno Taut 1936 rückblickend im Exil genannt hat, ist  nicht vom Himmel gefallen, sondern stellt eine durchaus revolutionäre Neubewertung und Umorganisation der bewährten Praktiken der mittelständischen Wohnbau- und Sparvereine dar. Will sagen, dass eine Handvoll junger Architekten am Anfang genügte, etwas bereits Etabliertes in eine deutlich neue Richtung zu überführen – und damit, was die Grundrissarbeit betrifft, auch noch den ganzen Massenwohnungsbau mitzunehmen.

Es ist ein Generationswechsel und ein politisch-ästhetisches Experiment gewesen, das sich gegen die konservative „Heimatschutz“-Architektur mit hohen Schwarzwalddächern und Säulenkram richtete und statt dieses Aufwandes perfekt geplante horizontale „Scheunen“ mit seidig schimmernden, einfachen Putzfassaden anbot. Seriale Gleichheit und Farbe statt allerlei museale Bauzier im Einheitsgrau. Darf man denn typisieren? Ja, wenn nur jeder Standort sein eigenes Gepräge erhält. Zügig bauen, aber sehr gründlich planen. Geduld und Liebe im Vorfeld, Effizienz im Bau. Ein neues Bild der Stadt entsteht, das im besten Sinne preußisch ist, nicht bayrisch, steirisch oder Davos. Einfach gereihte Sozialgerechtigkeit, aber im Sonnenlicht leuchtend und kinderfreundlich grün. Das Ganze zu Baupreisen, die schlagartig ein Drittel unter denen der Konkurrenz lagen.

Bauhütten als Selbsthilfegruppen

Diese neue Praxis ist in Berlin bereits seit dem Fall des Sozialistengesetzes diskutiert worden, sie hatte einen langen Vorlauf und konnte dann mit einem Male explodieren. Man könnte sie auch als konkrete Form des Übergangs vom liberalen, freigemeinwirtschaftlichen Genossenschaftsgedanken zu einer sozialisierten Produktions- und Verbrauchergesellschaft diskutieren, die unmittelbar mit dem Entstehen einer sozialdemokratischen Linken in der SPD verbunden war. Es sind institutionelle Übergangsformen, die hier in Berlin wie unter dem Mikroskop zu studieren sind. Um daraus für heute zu lernen. In diesen strikt aus dem Wirtschaftlichen diskursiv entwickelten Ablöseprozess vom (Neo-)Liberalismus zum Sozialismus war allerdings ein revolutionärer Quantensprung eingetreten, als sich mit den freien Baugewerkschaften 1919 eine arbeiterliche Organisation des Konzeptes eines promovierten Architekten versicherte. Geführt und organisiert von dem Schöneberger Stadtbaurat Dr. Martin Wagner entstand damals deutschlandweit aus einer spontanen sozialen Selbsthilfebewegung mit dezentralen großen und vor allem kleineren gewerkschaftlichen Bauhütten ein im ersten Schritt bereits überaus konkurrenzfähiger Dachverband, der sich Initiativen, Kommunen und dem Weimarer Staat als Träger sozialer Wohnbauprojekte anbot. In der Kombination von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Teilhabeökonomie und siedlungspolitischer Landnahme konnten die Bauhütten anfangs 10 bis 30% unter Marktpreisen produzieren. Das Geld wurde auf sehr verschiedenen Wegen beschafft, die Voraussetzung aber stellten ab 1924 amerikanische Anleihen dar. Bereits die Sozialisierung des Baubetriebes und der Architektenschaft war ein Coup, aber der langfristige Hauptgewinn lag in der Chance, gestalterisch, konstruktiv und distributiv frei entscheiden zu können. Bauvorschriften, Heimatschutz und Gestaltungsdogmen wurden rigoros außer Kraft gesetzt, um sukzessive neue Prinzipien durchzusetzen, mit denen der „Kapitallogik“, die Friedrich Engels in der „Wohnungsfrage“ als unausweichlich begriff, erstmals die Kontur einer, auch sinnlich erfahrbaren „Soziallogik“ gegenübergestellt werden konnte. Das sind Begriffe aus späterer Zeit, die aber hilfreich sind, den „Berliner Weg“ des sozialen Wohnungsbaus besser zu begreifen. Berlin beweist, wie alle Hindernisse fallen, sobald eine überzeugende Idee konkrete Gestalt gewinnt. Wir können es besser! 

Anders als man erwarten würde, war die programmatische Umpolung bereits nach dem Sozialistengesetz sukzessive im Milieu der Berliner Arbeiterbildungsschule und des „Architektenhauses“ in der Wilhelmstraße durch eine eigene, sehr spezielle Marx-Interpretation bzw. Marx-Kritik auf den Weg gebracht worden. Die allgemeine Überzeugung war hier, dass es auch im Kapitalismus möglich ist, sich geistig, existenziell, wie kulturell zu emanzipieren. Das war das Programm, dem auch ein „Bauhaus“, aber fast mehr noch der Berliner Siedlungsbau seine weltanschaulichen Grundlagen verdanken. Dem Sozialismus mitten in der kapitalistischen Welt durch vollendete Kooperation von unten her eine Kathedrale zu errichten. Und wenn es denn auch nur ein Waschhaus sein sollte, das als Raum für Frauen funktioniert. Oder ein Hügelchen mit ein paar Stufen, wo man gut Theater veranstalten kann. „Gebt eine Fahne, denn ein Glaube ist noch da: Der soziale Gedanke!“ (Bruno Taut).

Das eigentümliche, ganz Besondere am Berliner Modell des Volkswohnungsbaus ist dessen Verbindung von totaler Rationalisierung aller Vorgänge am Bau mit andererseits sublimer Ästhetisierung im Produktionsprozess von Raum. Es geht hier im Marx’schen Sinne um Vergegenständlichung, um Gestaltung – nicht von Dingen, sondern von Beziehungen. Gestaltungsfreiheit war genauso wichtig wie Kostenersparnis durch gute Gestalt. Man kann das als avancierte Technisierung bei gleichzeitiger poetischer Rückkopplung in die Sphäre der Kunst betrachten. Genau durch diese Komplexität erreichte die Moderne gerade in Berlin ihre volle Spannweite und neu-sachliche Ausformulierung. 

Sozialer Gedanke als Zivilreligion

Die klassischen Gestaltqualitäten waren nicht von Anfang an gegeben, sondern wurden situativ, leistungsorientiert und selbstregulierend ausverhandelt. Von Projekt zu Projekt, learning by doing.

Die Verhandlungsleistung der Akteure muss immens gewesen sein, Taut spricht von endlosen „Besuchen“, die er machen musste, bei durchschnittlich vier Jahren der planerischen Vorbereitung und wöchentlich im Roten Rathaus stattfindenden Planbesprechungen des Bundes Deutscher Architekten (BDA). Die Architekten erklärten die Pläne öffentlich, und sie besuchten mit ihren Planrollen die „grauen Eminenzen“ der Stadt, wie den längst pensionierten, aber einflussreichen Ludwig Hoffmann. Das verlief voller Widersprüche, es gab innergewerkschaftlich krasse Auseinandersetzungen über den Grad der erreichten Gemeinnützigkeit und die Grenzen von Wirtschaftlichkeitserwägungen. 

Der Hauptvorwurf war, dass die Sozialisierung des Bauens doch nur eine verbrämte Form des Syndikalismus sei, alter Proudhon-Sozialismus. Niemals im Zweifel stand allerdings das ideologische wie wissenschaftlich-methodische Programm, das stets belastbar blieb: Den sozialen Gedanken als neue Zivilreligion zu etablieren, ihn in Gestaltungen zu transzendieren und zugleich faktenbasierte Entwicklungsziele und planerische Methoden verbindlich zu machen. Mit der „Stadtkrone“ von Bruno Taut, den Manifesten von Erich Baron und Adolf Behne ist von Anfang an ein Programm da gewesen, dass in der Dissertation und Forschungsarbeit Martin Wagners für Groß-Berlin seine technische und planungsmethodische Übersetzung hatte. 

Das kulturelle, namentlich architektonisch ausformulierte Programm, das inspirativ auf eine zukunftsfähige Umgestaltung des Planeten zielt, ist damit zugleich in praktische städtebauliche und raumordnerische Handlungsfelder hinein vermittelt, die wissenschaftlich gut begründet sind. Es kommt aus dem organischen Funktionalismus und hat zugleich bereits die Tendenz zum rechtwinkligen Plattenbau. Als freiheitliche „Spielform“ (Adolf Behne), gedacht in einem ideal entwickelten Baukasten, nicht als zwanghafter Schematismus. Entscheidend für den Berliner Siedlungsbau ist sein utopisches Versprechen von Heimat und menschheitlich entfalteter Zukunft und wie dieses Pathos dann in jedem einzelnen Ausführungsplan technisch konkret übersetzt worden ist: Ob Tuschkastensiedlung, Britzer Hufeisen, Onkel Toms Hütte oder Weiße Stadt. Man könnte auch sagen: Berlins klassische Moderne ist groß genug gedacht, dass sie im Einzelnen nicht fehl gehen kann. Anders als heute.

 

Prof. Dr. Simone Hain ist Architekturhistorikerin, Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung und war zuletzt Leiterin des Instituts für Stadt- und Baugeschichte an der Technischen Universität Graz. Ihre Schwerpunkte sind Stadtforschung und Geschichte des modernen Planens und Bauens.


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