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MieterEcho 409 /

Wohnen als soziales Recht

In der Corona-Krise sichert der Sozialstaat die Gewinne der Immobilienwirtschaft statt das Recht auf gute Wohnungen

Von Philipp Möller                                   

Vielen Menschen stellen sich derzeit existenzielle Fragen: Habe ich am Ende des Monats noch meinen Job? Reicht mein Einkommen, um die Miete weiter zu bezahlen? Wie lange kann ich meine Wohnung halten, wenn ich meine Arbeit verliere? Das Corona-Virus zeigt wie verwundbar der Kapitalismus ist, gerät der Verwertungsprozess einmal ins Stocken.                                            


Fallen Löhne und Einnahmen als Quellen des Mietzinses aus, schlägt die Stunde des Sozialstaats. Durch Arbeitslosen- und Wohngeld sowie die Übernnahme der Kosten der Unterkunft im Rahmen von Hartz IV sichert er die Einnahmen der Hauseigentümer/innen. Die Höhe der sozialstaatlichen Leistungen ist in der Arbeitslosenversicherung an die zuvor eingezahlten Beiträge gekoppelt. Findet die Arbeitskraft über einen längeren Zeitraum keine erneute Verwendung, fällt das Niveau der Leistungen auf das Existenzminimum ab. Für Empfänger/innen von Arbeitslosengeld II oder Wohngeld definiert der Staat ein existenzielles Minimum für Wohnungsgrößen und gibt an, was er dafür maximal zahlen wird. Wessen Wohnsituation dem Fiskus unangemessen scheint, der muss umziehen oder die Miete vom Essen absparen. Der Großteil der sozialstaatlichen Leistungen fließt in die Taschen privater Vermieter/innen. Eigene Wohnungen hält der neoliberale Sozialstaat nur für eine Minderheit bereit. Lediglich 18% des Berliner Gesamtwohnungsbestandes sind in kommunaler Hand. Das Recht auf Wohnen hängt für Transfersleistungsbezieher/innen daher wesentlich von privaten Wohnungsgeber/innen ab.       

 

In der jetzigen Krise wurden einige Prinzipien des Systems plötzlich außer Kraft gesetzt. Das Jobcenter verzichtet darauf die „Angemessenheit der Wohnung“ zu überprüfen und übernimmt für Neuantragssteller/innen die tatsächlich anfallenden Mietkosten. Selbständigen gewährt der Berliner Senat Zuschüsse in Höhe von 5.000 Euro, ohne ihre Bedürftigkeit zu prüfen. All dies geschieht nicht aus neu entdeckter Solidarität, sondern dient dazu, die Zirkulation von Waren und Geld aufrechtzuerhalten. Wohnungen in Warenform sind zinstragendes Kapital. Sie werden mit Krediten belastet und mit ihnen wird Kapital akkumuliert. Das Forschungsinstitut Empirica warnte bereits vor einer Bankenkrise, sollten Kleineigentümer/innen massenhaft ihre Kredite aufgrund von Mietausfällen nicht mehr abzahlen können. In der Krise angehäufte Mietschulden können deshalb nicht einfach erlassen werden, sondern sind bis Juni 2022 zurückzuzahlen. Da das vielen Menschen angesichts sinkender Einnahmen nicht möglich sein wird, fordern Mieter- und Vermieterbände gemeinsam einen „Sicher-Wohnen-Fonds“. Daraus sollen Mieter/innen unterstützt werden, was letztendlich dazu dient, die Erträge der Eigentümer/innen zu sichern.                                
Krise als Aufbruch?           
Derzeit spannt der Staat Rettungsschirme ungekannten Ausmaßes auf, um Unternehmen vor der Pleite zu bewahren. Es wird deutlich, welche riesigen Ressourcen reiche Gesellschaften zur Stimulation ihrer Ökonomien mobilisieren können. Wohin die Mittel fließen, ist dabei immer abhängig von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Bereits jetzt hat eine Diskussion über die systemrelevanten Elemente unserer Gesellschaft begonnen. Aus Krisen können immer auch gesellschaftliche Aufbrüche erwachsen. Inmitten des 
2. Weltkriegs entwickelte Großbritannien mit dem Beveridge Report einen Plan für die Neuorganisation des Gesundheitssystems nach dem Krieg. Erstmals in der Geschichte garantierte eine Gesellschaft allen Mitgliedern eine Gesundheitsfürsorge auf hohem Niveau, unabhängig von zuvor erbrachten Beiträgen, finanziert aus  Steuereinnahmen. Eine ähnliche Vision ließe sich für die Wohnungsversorgung formulieren. Darin wäre das universale Recht auf Wohnraum als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge zu garantieren und durch den Staat als soziale Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Ein solcher Plan könnte durch die dunklen Tage der Corona-Pandemie leiten und eine Lösung für die bereits vor COVID-19 aufgeworfene „soziale Frage des 21. Jahrhunderts“ sein.


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