Logo Berliner Mietergemeinschaft e.V.
MieterEcho 407 / Januar 2020

„Wir brauchen einen großen produzierenden Sektor“

Interview mit Christian Hoßbach

Der DGB fordert vom Senat mehr Engagement in der Industriepolitik und ein entschiedenes Vorgehen gegen Missstände in Unternehmen der Plattformökonomie.                          

     
MieterEcho: Die Berliner Wirtschaft boomt anscheinend ungebrochen. Die Wachstumsraten liegen stabil über dem Bundesdurchschnitt, die Steuereinnahmen sprudeln, die Zahl der Beschäftigten steigt kontinuierlich. Hat der rot-rot-grüne Senat alles richtig gemacht?
Christian Hoßbach: Wir haben in der Tat seit über zehn Jahren eine starke Wachstumsdynamik in Berlin und im Umland. Sie ist also nicht nur einer bestimmten Regierungskonstellation gutzuschreiben. Aber klar ist, dass der aktuelle Senat mit einer aktiven Politik für Investitionen, Forschung und öffentliches Personal wichtige Beiträge leistet.                                    

Die Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) verweist auf Berlins führende Rolle bei Start-ups und Kreativwirtschaft. Wie sind diese Erfolgsmeldungen aus Ihrer Sicht einzuschätzen?                                                    
Wir weisen immer darauf hin, dass Berlin eine ausgewogene Wirtschaftsstruktur haben sollte, um eine nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen. Dazu gehört auch ein großer produzierender Sektor. Der ist immens wichtig für einen hohen Anteil gut bezahlter, regulärer Arbeitsplätze, aber auch für Innovations- und Wertschöpfungsketten. Deswegen setzen wir uns seit Jahren intensiv dafür ein, die Industriepolitik in Berlin wieder nach vorne zu bringen. Das ist im Prinzip kein Widerspruch zu einer wachsenden Start-up- und Gründerszene. Allerdings gibt es dort viele Bereiche, die von schlechter Bezahlung und prekären Arbeitsverhältnissen geprägt sind. Das soll dann manchmal als „Aufbruchstimmung“ oder „trendige neue Unternehmenskultur“ verbrämt werden. Natürlich gibt es auch die guten Beispiele: neue Unternehmen, in die viel Geld von Investoren fließt und bei denen es auch hoch qualifizierte und entsprechend bezahlte Arbeitsplätze gibt, besonders im IT-Bereich. Aber wie nachhaltig diese Entwicklung ist, lässt sich derzeit noch nicht abschätzen.                                            

Gerade im Bereich der digitalen Plattformökonomie haben die Gewerkschaften einen schweren Stand. Seit Jahren versucht zum Beispiel ver.di bei Amazon einen Tarifvertrag auf dem Branchenniveau durchzusetzen, aber trotz mehrerer Streiks bislang ohne nennenswerten Erfolg. Und in der Start-up- und Gründerszene sind die Gewerkschaften so gut wie gar nicht präsent. Warum kommen sie dort nicht voran?   
Es ist tatsächlich auch ein kulturelles Thema. Wer früher in einer Branche anfing, hat seinen Arbeitsvertrag unterschrieben und ist dann in die Gewerkschaft eingetreten. Das ist nicht mehr so. Uns ist es in der Tat noch nicht gelungen, in dieser Szene ein breites Bewusstsein dafür zu schaffen, dass kollektive Interessenvertretung im ureigenen Interesse aller dort Beschäftigten und somit auch jedes Einzelnen liegt. Es gibt ja Ansätze, zum Beispiel bei einigen Lieferdiensten. Aber das ist noch zu wenig, und wir müssen weiter nach Wegen suchen, diese Beschäftigten zu erreichen.
Bei den großen, oft international agierenden Konzernen wie Amazon stellt sich das Problem noch ganz anders dar. Deren Geschäftsstrategie basiert ja auf Verhinderung von echter Mitbestimmung und der Ausgrenzung von Gewerkschaften, und das mit harten Bandagen. Bei einigen dieser Probleme wäre auch der Gesetzgeber gefordert. Das betrifft die Unterbindung von Scheinselbständigkeit, die Unternehmenshaftung für die Einhaltung von Sozialstandards bei Subunternehmen und auch die Erleichterung von  Allgemeinverbindlicherklärungen.               

                                             
Diese Probleme könnten nur auf Bundesebene gelöst werden. Doch es geht ja auch um regionale Strukturpolitik. Sie haben vorhin die wichtige Rolle des produzierenden Gewerbes betont. Gerade dort sind bei der Gasturbinensparte von Siemens und bei Osram massive Arbeitsplatzverluste zu befürchten. Müsste der Senat da nicht entschiedener intervenieren?    
Ja. Auf die Bestandsunternehmen muss ein stärkerer Fokus gelenkt werden. Da sich die meisten Konzernzentralen gar nicht in Berlin befinden, muss der Berliner Senat die Kommunikation mit diesen Entscheidungsebenen verbessern. Klar ist: Es gibt Entwicklungsprozesse, die politisch kaum zu beeinflussen sind. Im ganzen Bereich der Automobilzulieferer und der Energietechnik sind im Zuge der Klimadebatte gigantische Transformationsprozesse im Gange. Die können ganze Wertschöpfungsketten auflösen, mit der Folge von großen Markteinbrüchen, und das sehen wir auch beim Gasturbinenwerk oder bei Osram. Eine Landesregierung muss versuchen, die Folgen abzufedern. Da geht es vor allem um Qualifizierung für die von Arbeitsplatzverlusten betroffenen Beschäftigten. Und die Berliner Wirtschaftsförderung muss sich um Ansiedlungen von Industriebetrieben kümmern. Das betrifft unter anderem die Bereitstellung von Flächen und die Verzahnung mit den Universitäten.                                                 
Gerne wird vom Senat auch der Tourismus als wichtiger Wachstumsfaktor beschworen und umfassend gefördert. Auf der anderen Seite fühlen sich viele alteingesessene Berliner/innen nur noch als eine Art Kulisse der touristischen Eventorienitierung der Stadt. Gibt es auf diese Frage eine gewerkschaftliche Sicht?    
Wir gucken natürlich in erster Linie auf vernünftig bezahlte Arbeitsplätze und gute Arbeitsbedingungen, und da liegt im Tourismusgewerbe sicherlich einiges im Argen. Egal ob Hotels, Gaststätten oder Klubs: Es gibt dort – vorsichtig formuliert – einen riesigen Nachholbedarf in Sachen regulärer Beschäftigung und Entlohnung und vermutlich auch eine große Grauzone der Schwarzarbeit. Trotzdem sehen wir natürlich die Wachstumsdynamik und die wirtschaftliche Bedeutung des Tourismus, was für Städte wie Berlin ja auch völlig normal ist. 

                                                       
Der Tourismus führt in seiner derzeit praktizierten Entwicklung zu massiven sozialen Umstrukturierungsprozessen, unter anderem durch Zweckentfremdung von Wohnungen für Ferienapartments oder die Verdrängung alteingesessener Geschäfte. Sind das für die Gewerkschaften eher zu vernachlässigende Fragen?
Wir müssen uns immer fragen: Worauf konzentrieren wir uns als Gewerkschaft, was können wir schaffen? Natürlich dürfen die Belastungen durch Tourismus für eine Stadt und ihr soziales Gefüge nicht zu groß werden. Gerade die Frage der Wohnraumversorgung ist ein wichtiges Thema für Gewerkschaften, und das hat dann auch was mit den Tourismuskonzepten zu tun, auch in der Frage der Zweckentfremdung durch Ferienwohnungen.                                                

Den Gewerkschaften dürfte ja nicht entgangen sein, dass die Wohnungspolitik eine herausragende Rolle im politischen Diskurs in der Hauptstadt spielt. Derzeit spitzt sich das beim vom Senat geplanten Mietendeckel zu, außerdem gibt es ein in der ersten Stufe erfolgreiches Volksbegehren für die Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen. Wollen sich die Gewerkschaften aus dieser Auseinandersetzung heraushalten?    
Das tun wir keineswegs. Die Gewerkschaften setzen sich seit Jahren für eine nachhaltige, soziale Wohnungs- und Mietenpolitik ein, sowohl in Berlin als auch auf Bundes- und EU-Ebene, wo wir die Initiative „Housing for all“ unterstützen. Ich bin sehr dafür, den Blick da etwas über den Tellerrand der Hauptstadt zu richten. Weltweit ist Kapital in Billionendimensionen auf der Suche nach attraktiven Anlage- und Renditemöglichkeiten. Da diese in den produktiven Sektoren und den Finanzmärkten eher zurückgegangen sind, ist ein wahnsinniger Druck auf die Märkte für Grund und Boden entstanden. Davon können die Bauern in Brandenburg ein Lied singen, und das betrifft in starkem Maße auch den Berliner Wohnungsmarkt. Die Landesregierung muss da entschlossen vorgehen. Zum einen müssen alle Spielräume im bestehenden Recht ausgeschöpft werden, etwa beim Milieuschutz. Und natürlich muss in einer wachsenden Stadt auch verstärkt neu gebaut werden, verbunden mit einer deutlichen Stärkung des Wohnungsbestandes im öffentlichen und gemeinwohlorientierten Bereich. Wir würden es auch nachdrücklich unterstützen, wenn der Mietendeckel tatsächlich kommt, und zwar in einer Form, in der er nicht gleich wieder von Gerichten kassiert werden kann. Da sind wir sicherlich etwas zurückhaltender als einige politische Akteure. Und in der Frage, ob Enteignungen ein richtiger Weg wären, gibt es in den Gewerkschaften unterschiedliche Positionen, und die werden sicherlich auch weiter diskutiert werden.                                
Vielen Dank für das Gespräch.    

Die Fragen stellte Rainer Balcerowiak.
    

Christian Hoßbach ist Vorsitzender des DGB Bezirks Berlin-Brandenburg.

Durch Allgemeinverbindlicherklärungen erhalten Tarifverträge auch für nicht tarifgebundene Arbeitgeber Geltung. Dies erfolgt durch den Bundesarbeitsminister im Einvernehmen mit dem paritätisch besetzten Tarifausschuss. Vgl: https://www.boeckler.de/wsi-tarifarchiv_2267.htm


MieterEcho 407 / Januar 2020