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MieterEcho 410 /

Verkehrspolitik auf Geisterfahrt

Kaum Vorankommen bei ÖPNV-Modernisierung, Fahrradstraßenausbau oder Busspuren

Von Rainer Balcerowiak   

Als im November 2016 zum Ende der Koalitionsverhandlungen für eine rot-rot-grüne Koalitionsregierung die Nominierungen für den künftigen Berliner Senat bekannt wurden, sorgte ein Name für Überraschung. Das Ressort für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz sollte auf Vorschlag der Grünen die parteilose Politikwissenschaftlerin Regine Günther erhalten. Die bisherige Bilanz ihrer Arbeit ist bescheiden.                             

Als einziges Senatsmitglied war Günther zuvor auf der politischen Bühne der Hauptstadt kaum in Erscheinung getreten, sondern seit 1999 in verschiedenen leitenden Positionen bei der global agierenden Umweltstiftung World Wide Fund For Nature (WWF) tätig gewesen, zuletzt als Generaldirektorin für Politik und Klima. Dort profilierte sie sich stets als engagierte Verfechterin einer engen Kooperation mit großen Konzernen. Der WWF ist eine Art Vorreiter beim „Greenwashing“. Das heißt, auch Konzerne mit äußerst zweifelhaften Geschäftspraktiken, wie etwa der globale Lebensmittel- und Haushaltschemie-Gigant Unilever, können sich regelmäßig mit ihren  gemeinsamen  Projekten mit dem WWF schmücken.
Günther, die erst im Juni 2019 den Grünen auch beitrat, besetzte damit ein Schlüsselressort in der neuen Landesregierung, die von ihr zu verantwortenden Themenkomplexe nahmen im Koalitionsvertrag sehr großen Raum ein. Angekündigt wurde unter anderem eine „Umverteilung des Straßenraums zugunsten des ÖPNVs, des Rad- und Fußverkehrs“. Dazu soll „die Errichtung von im Regelfall mindestens zwei Meter breiten Radstreifen entlang des Hauptstraßennetzes“ gehören. Aus Gründen der Mobilitätssicherheit soll abschnittsweise eine physische Trennung des Radverkehrs sowohl vom Auto- als auch vom Fußverkehr erfolgen. Auf Nebenstraßen will die Koalition ein Netz aus Fahrradstraßen planen und errichten. Bei den gehwegbegleitenden Radwegen werden Sichthindernisse vor Kreuzungen beseitigt. Damit trug die neue Landesregierung auch der erfolgreichen Kampagne der Initiative Volksentscheid Fahrrad Rechnung, mit der sich bereits der Vorgängersenat auf die Übernahme einiger Kernforderungen geeinigt hatte.   
                   
Wenig Fortschritte beim ÖPNV               
Als weiteren Schwerpunkt benannte die Koalition den Ausbau des ÖPNV. Angekündigt wurde die Inbetriebnahme einiger Straßenbahnlinien noch in der laufenden Legislaturperiode, sowie die Schaffung der planerischen Voraussetzungen für weitere Linien. Für den Busverkehr sollte es ein großes Anschaffungsprogramm für Elektrobusse und die entsprechende Ladeinfrastruktur geben. Ferner sollte die weitgehende Erneuerung des maroden Fuhrparks der Berliner U-Bahn weitgehend abgeschlossen werden.
Ein besonderes Augenmerk legte die Koalition auf die Zukunft der Berliner S-Bahn. Neben der bereits mehrfach verschobenen Eröffnung der neuen Linie S 21, die den Hauptbahnhof an die Ringbahn und die Nord-Süd-Trasse anbinden soll, wurde eine Neuorganisation des gesamten Betriebes angekündigt. Im Koalitionsvertrag heißt es dazu: „In Zukunft will die Koalition die Abhängigkeit von einem/-r einzelnen Betreiber*in verringern, um mehr Einfluss auf die Qualität des S-Bahn-Verkehrs zu erreichen und die Kosten zu senken. Für die zukünftigen S-Bahn-Ausschreibungen für den Betrieb ab 2028 will die Koalition daher die Schaffung eines landeseigenen Fahrzeugpools oder andere Modelle, wie die Übernahmemöglichkeit durch eine/-n neue/-n Betreiber*in prüfen“. Im Prinzip ist diese Ausschreibung inzwischen beschlossene Sache, um die Modalitäten gibt es aber immer noch heftigen Streit. Vor allem Die Linke, aber auch Teile der SPD fordern weitreichende Garantien für die Beschäftigungssicherung und die Tarifbindung aller bisherigen Mitarbeiter/innen im Falle eines Betreiberwechsels, was Günther bislang als „nicht nachvollziehbar“ bezeichnet. Eine Kommunalisierung der S-Bahn, etwa unter dem Dach der BVG, wurde vom Senat offenbar nicht ernsthaft in Erwägung gezogen.
Aber auch in den anderen Verkehrssegmenten kann man Günthers bisherige Bilanz als äußerst bescheiden bezeichnen. Die Ausweisung und Einrichtung von neuen Busspuren kommt nur schleppend voran. Das gilt auch für die allmähliche Umrüstung der Flotte auf E-Busse, die bislang lediglich auf einer Linie durchgehend eingesetzt werden. Die zu erwartenden Haushaltsrestriktionen in Folge der Corona-Pandemie lassen weitere Verzögerungen befürchten. Das gilt auch für die Modernisierung des U-Bahn-Fuhrparks, die sich ohnehin aufgrund diverser Ausschreibungspannen und folgenden juristischen Auseinandersetzungen um mehrere Jahre verzögern wird.  
Bei der Straßenbahn sieht es nicht viel besser besser aus. Lediglich die Verlängerung der M10 vom Hauptbahnhof zur Turmstraße könnte nach einem über ein Jahrzehnt währenden Untersuchungs-, Beteiligungs- und Planungswirrwarr noch in dieser Legislaturperiode realisiert werden, bis zum Ende des kommenden Jahres. Doch die Hand dafür möchte wohl niemand ins Feuer legen.          

                                      
Kaum neue Fahrradspuren               
Aber nicht nur der öffentliche Personennahverkehr als Kernelement der groß angekündigten „Mobilitätswende“ dümpelt eher vor sich hin und wird den Anforderungen einer wachsenden Großstadt unter der erklärten Prämisse der Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs nicht gerecht. Auch bei der grünen Herzensangelegenheit – der Fahrradinfrastruktur – bleibt Günthers Ressort weit hinter den hochgesteckten Erwartungen zurück. Vor allem der Neu- und Ausbau von Radschnellwegen kommt kaum voran. Und nach wie vor ist die – politisch gewollte – stärkere Nutzung des Fahrrads für die alltäglichen Wege in großen Teilen der Stadt ein ausgesprochen gefährliches Unterfangen. Die Einrichtung von weitgehend vom Pkw-Verkehr abgeschirmten, zwei Meter breiten Fahrradspuren an Hauptstraßen ist über einige Pilotprojekte kaum hinausgekommen. Gerade in Kreuzungs- und Einmündungsbereichen entstehen immer wieder gefährliche Konfliktsituationen und es kommt zu schweren, manchmal auch tödlichen Unfällen. Und die an vielen Straßen eingerichteten „Angebotsstreifen“ für Fahrräder werden von vielen Pkw-Fahrer/innen eher als „Angebot“ für das Parken in 2. Reihe verstanden, ohne dass Polizei und Ordnungsämter willens oder in der Lage sind, dies durch massive Dauerpräsenz und die Verhängung entsprechender Bußgelder zu unterbinden. Die Planungsbürokratie und die mehrstufige Verwaltung mit den entsprechenden Mitwirkungsrechten und -pflichten der einzelne Bezirke sorgen immer wieder für Sand im Getriebe bei der schnellen Abhilfe. Die Senatsverwaltung konnte Ende des vergangenen Jahres noch nicht einmal genau beziffern, wie viele neue Fahrradwege überhaupt stadtweit geschaffen wurden und wie viele Streckenkilometer in der Planung für 2020 sind, wie Anfragen im Abgeordnetenhaus ergaben.
Ausgerechnet im Zuge der Corona-Pandemie zeigt sich, dass es auch ganz anders geht. Mehrere Bezirke – allen voran Friedrichshain-Kreuzberg – errichteten temporäre Fahrradstreifen, die relativ unkompliziert durch eine Gelbmarkierung in von Radfahrer/innen stark frequentierten Straßen angelegt wurden. Ob diese, mit deutlichen Einschränkungen für Pkw verbundenen Neuaufteilungen des Straßenraums dauerhaft erhalten bleiben, ist allerdings noch umstritten.
Die Liste der Versäumnisse, arg verschleppten Umsetzungen längst geplanter Projekte und dilettantischen Einzelaktionen ließe sich beliebig fortsetzen. Das betrifft unter anderem die Parkraumbewirtschaftung und absurde, inzwischen revidierte „Verkehrsberuhigungen“,  wie „Sitzparklets“ und große grüne Punkte auf der Kreuzberger Bergmannstraße oder das möglicherweise vor dem Aus stehende Angebot von Anrufsammeltaxen für bestimmte Innenstadtrouten (BerlKönig). Auch die im Februar mit großem Trara vorgestellte neue Vernetzungsplattform für alle Verkehrsträger vom E-Scooter bis zum Car-Sharing-Anbieter (Jelbi)  nebst Einrichtung von „Mobilitätshubs“ in der Nähe von wichtigen Verkehrsknotenpunkten zur Anbindung an den ÖPNV bewegt sich deutlich unterhalb der allgemeinen Wahrnehmungsschwelle.
Eine wirklich kohärente, zielgerichtete Verkehrspolitik mit einer entsprechend agierenden Senatsverwaltung bleibt jedenfalls Fehlanzeige. Und so wird die mit viel Vorschusslorbeeren und jeder Menge Pläne gestartete Regine Günther wohl nicht als leuchtender Stern in die Berliner Stadtentwicklungsgeschichte eingehen.        


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