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MieterEcho 410 / Juni 2020

Risse im System

Die Mängel in systemrelevanten Infrastrukturen sind Folge jahrelanger Sparpolitik

Von Hermann Werle   

Der in der Finanz- und Wirtschaftskrise etablierte Begriff der Systemrelevanz erfährt eine neue Bedeutung. Waren es 2009 die großen Investmentbanken, deren Rettung mit dem Attribut der Systemrelevanz legitimiert wurde, zeigt sich, dass in Krisensituationen ein funktionierendes Gesundheits-, Bildungs- und Wohnungswesen die entscheidenden Stützen der Grundversorgung sind. Sorgten 2009 milliardenschwere Rettungsschirme für eine sichere Landung der Banken und Automobilindustrie, müssen sich die systemrelevanten Branchen und deren Beschäftigte bislang mit Applaus und Trostpflastern begnügen.   

                
Schon vor zehn Jahren wurde kritisiert, dass es nicht die Aufgabe der Politik sei, den Absatz von Pkw mit Geschenken aus Steuermitteln anzukurbeln. Angesichts des Klimawandels verwundert es umso mehr, dass sich die Lobby der Klimakiller im Jahr 2020 abermals so viel Gehör verschaffen kann, sei es beim Milliardenpoker um die Lufthansa oder der Debatte um eine Neuauflage der Abwrackprämie. Wenn es dagegen um die Stärkung des durch die Pandemie angeschlagenen öffentlichen Nahverkehrs geht, herrscht Zurückhaltung. Dies sei die Sache der Bundesländer, tönt es aus den Reihen von CDU, FDP und AfD. Ebenso wenig gibt es eine öffentliche Debatte über eine nachhaltige Stärkung des Gesundheitswesens, der Betreuungs- und Bildungseinrichtungen oder der Wohnungsversorgung. Deren Bedeutung belegen die hohen Infektionsraten in den beengten Unterkünften für Geflüchtete oder Beschäftigte in der Fleischindustrie.  

                                                  
Was ist systemrelevant?
Laut einer im März veröffentlichten Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) weist die Mehrzahl der systemrelevanten Berufe „außerhalb von Krisenzeiten ein geringes gesellschaftliches Ansehen sowie eine unterdurchschnittliche Bezahlung“ auf. Weiterhin stellt die Studie fest, dass überwiegend Frauen in diesen, häufig von akutem Personalmangel betroffenen, Bereichen tätig sind. Als systemrelevant gelten Bereiche, die „als unerlässlich für das Funktionieren der Gesellschaft definiert werden“, wozu beispielsweise das Gesundheitswesen, die Kindernotbetreuung, Reinigungsberufe sowie die Grund- und Lebensmittelversorgung gehören. Zu Recht bemerken die Autorinnen, dass „Klatschen auf Balkonen und warme Worte von politischen Akteuren“ zwar eine „wichtige Würdigung von Systemrelevanz“ seien, die aktuelle Situation jedoch deutlich zeige, „dass eine Debatte über die Rolle der Daseinsfürsorge in Deutschland überfällig ist“.
Einen Beitrag zu der Debatte liefert das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA) des Instituts der deutschen Wirtschaft. Dessen vom Wirtschaftsministerium geförderte und im April 2020 veröffentlichte Studie geht von der vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe genutzten Definition der „kritischen Infrastrukturen“ aus. Demnach gehören Einrichtungen des staatlichen Gemeinwesens dazu, „bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden“. Um festzuhalten, wo es krisenbedingt zu Fachkräftemangel kommt, entwickelte das KOFA den sogenannten „Corona-Engpassindex“. Die gravierendsten Engpässe ermittelt das KOFA in den öffentlichen Verwaltungen, in der Betreuung und Erziehung sowie bei den Gesundheitsberufen. Während in den Verwaltungen zwischen 70.978 (Positivszenario) und 163.243 (Negativszenario) Fachkräfte fehlen bei insgesamt 869.231 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, sind es im Gesundheitsbereich zwischen 443.570 und 839.049 bei 3.722.325 Beschäftigten. Die größte Lücke besteht dabei in der Gesundheits- und Krankenpflege, gefolgt von der Altenpflege.   
                           
Auf Kante genäht
Während die Befunde wenig überraschend sind, ist die vom wirtschaftsnahen KOFA vorgeschlagene Therapie umso aufschlussreicher. Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, soll nicht etwa dauerhaft mehr Personal eingestellt werden, das Rezept heißt vielmehr Flexibilisierung und „Umverteilung von Arbeitskräften“. Mit Hilfe eines Informationsportals sollen Arbeitssuchende und Unternehmen in Krisensituationen zusammengeführt werden, wobei es Arbeitgebern erleichtert werden soll, „kreative Lösungen zu finden und Stellen mit neuen Tätigkeitsprofilen auszuschreiben und über diese Kanäle eine breitere Zielgruppe anzusprechen“. Mit dem „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ vom 27. März 2020 wurde bereits ermöglicht, dass Pflegekräfte ärztliche Tätigkeiten übernehmen dürfen. Nach den Vorstellungen des KOFA soll dieses Notfallgesetz ausgeweitet werden. So heißt es in der Studie, dass auch Gesundheits- und Krankenpflegefachkräfte Entlastung benötigen würden und folgert: „Hier wäre es denkbar, Pflegehelfern zu erlauben, einige Tätigkeiten zu übernehmen, die bisher Fachkräften vorbehalten waren. Ein Mangel an Fachkräften könnte somit durch Einstellung von Helfern kompensiert werden.“ In den Gesundheitsämtern Berlins sind diese Vorstellungen der „Umverteilung von Arbeitskräften“ längst bittere Realität. Seit Jahren ist der öffentliche Gesundheitsdienst vergleichsweise schlecht bezahlt und unterbesetzt. Ohne Verstärkung aus anderen Ämtern könnten die vielfältigen Aufgaben längst nicht mehr bewältigt werden. Nicht anders ist die Situation in den Krankenhäusern. Die Gewerkschaft ver.di beklagt, dass mit dem Finanzierungssystem über Fallpauschalen der Spardruck permanent an die Belegschaften weitergegeben wird. „Die Personaldecke ist so auf Kante genäht, dass sich die politisch Verantwortlichen nur mit der Aussetzung von Schutzrechten zu helfen wissen. Beschäftigte sollen bis zu zwölf Stunden arbeiten können, bei verkürzter Ruhezeit.“ Wie alle systemrelevanten sozialen Infrastrukturen wurde die öffentliche Gesundheitsversorgung zum Teil privatisiert oder über Jahrzehnte kaputt gespart und betriebswirtschaftlich „optimiert“. In Berlin waren es die heutigen Koalitionspartner SPD und Die Linke (bzw. PDS), die der Entwicklung Vorschub leisteten.                                   
Sarrazinierung der sozialen Infrastrukturen
Nicht allein bundesrechtliche Weichenstellungen setzten den systemrelevanten Einrichtungen zu. Während auf Bundesebene die SPD/Grünen-Koalition zu Beginn der 2000er Jahre mit Steuergeschenken für Unternehmen und Hartz-Gesetzen für die Lohnabhängigen zur neoliberalen Offensive bliesen, war es in Berlin der SPD/PDS-Senat. Im Grunde hätte sich Berlin den einen oder anderen Senatsbereich ganz sparen können, denn das Sagen hatte nur noch einer: Thilo Sarrazin. Der vormalige Manager der Treuhand und der Deutschen Bahn war von 2002 bis 2009 Finanzsenator und setzte ein rigoroses Sparprogramm durch. Der Rest der SPD/PDS-Koalition folgte ihm über Jahre hinweg nahezu widerspruchslos. So sollten 70.000 Stellen eingespart und Landeseigentum privatisiert werden, um den Berliner Haushalt zu sanieren und zugleich nationalem und internationalem Kapital Anlagesphäre zu bieten. Es folgte ein radikaler Kahlschlag im Bildungs- und Gesundheitswesen, bei der BVG, den sozialen Diensten wie auch in den Wohnungs- und Bauämtern. Lange Warteschlangen und Fristen in den Bürgerämtern, einkalkulierte Unterrichtsausfälle in den Schulen sowie völlige Überlastung für Pflege- und Betreuungspersonal in Krankenhäusern und Kitas wurden zur Normalität, nach der sich gerade so viele sehnen. Der öffentliche Dienst und landeseigene Unternehmen waren „sarraziniert“ worden, wie es die 2009 verstorbene Abgeordnete der Grünen, Barbara Oesterheld, im Juni 2004 in einer Parlamentsdebatte bezüglich der Wohnungsbaugesellschaften auf den Punkt gebracht hatte. Sarrazin rühmt sich bis heute seiner Taten und schrieb auf der neokonservativen Internetseite Achse des Guten: „Die erfolgreiche Sanierung der landeseigenen Wohnungsunternehmen zwischen 2002 und 2009 war nur möglich, indem ich den politischen Einfluss aus dem Parlament und den Parteien und das Hineinregieren der Verwaltung in die Unternehmen strikt unterband.“ Bis heute ist der von Sarrazin hinterlassene Flurschaden nicht beseitigt. Wurde der Öffentlichkeit 2015 vor Augen geführt, dass die Wohnungsversorgung angesichts der Ankunft vieler geflüchteter Menschen längst am Limit war, so offenbart die aktuelle Pandemie die Krise der systemrelevanten Bereiche. Wo ein grundlegender Richtungswechsel hin zu einer postliberalen sozialen Infrastruktur dringend geboten wäre, versucht der Berliner Senat den Rissen im System mit Flickschusterei zu begegnen.

Weitere Infos:
www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.743854.de/diw_aktuell_28.pdf
www.kofa.de/fileadmin/Dateiliste/Publikationen/Studien/Versorgungsrelevante_Berufe_Corona-Krise_1_2020.pdf


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