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MieterEcho 407 / Januar 2020

Hauptstadt der Gig Economy

Internetunternehmen treiben Gentrifizierung und prekäre Beschäftigungsmodelle voran

Von Jörn Boewe      

Bis 2023 soll in der Nähe des S- und U-Bahnhofs Warschauer Straße das „Edge East Side“ entstehen, ein 140 Meter hoher Büroturm mit gut 63.000 qm Bürofläche. 28 der geplanten 35 Etagen will der Internetkonzern Amazon anmieten, 3.400 Angestellte sollen hier arbeiten, überwiegend Softwareentwickler/innen.         

Die Entwickler/innen, die ins Edge East Side einziehen sollen, werden zwar zum größten Teil deutlich besser bezahlt sein als die Beschäftigten in Amazons Versandzentren und Logistikstandorten. Doch genau das dürfte hier zum Problem werden, fürchten Kritiker/innen, und die in den umliegenden Wohngegenden ohnehin schon extrem hohen Mieten weiter nach oben treiben. Im Herbst hatte Friedrichshain-Kreuzbergs Baustadtrat Florian Schmidt (B90/Grüne) vergeblich versucht, den Bau juristisch zu stoppen. Nun hoffen Gentrifizierungsgegner/innen, das Vorhaben noch mit einer breiten Bewegung in den Nachbarschaften abwenden zu können. „#kickitlikegoogle“ twittern Blockupy-Aktivist/innen: 2016 hatte der Internetgigant Google Pläne bekannt gegeben, im ehemaligen Umspannwerk am Kreuzberger Paul-Lincke-Ufer einen Start-up-Campus errichten zu wollen. Doch dagegen formierte sich schnell breiter und schließlich auch erfolgreicher Widerstand in der Nachbarschaft. Im Herbst 2018 beerdigte Google das Vorhaben, zumindest vorerst. Ob gegen Amazons geplantes Hochhaus an der Warschauer Straße eine ähnlich starke Bewegung auf die Beine kommt, wird sich zeigen.
                                            
Expansion seit 2013
Jedenfalls ist der Internetkonzern in Berlin und Umland längst aktiv und auf Expansionskurs. 2013 eröffnete das Unternehmen nur wenige Kilometer vor der Stadtgrenze in Brieselang ein Versandzentrum – auf 65.000 qm, der Fläche von neun Fußballfeldern. Um die 600 festangestellte Mitarbeiter/innen verschicken von hier aus vor allem kleinteilige Waren mit einem hohen Umschlagtempo. Im vierten Quartal steigt die Mitarbeiterzahl wegen des Weihnachtsgeschäfts in der Regel noch um mehrere hundert Saisonkräfte. Viele der hier Beschäftigten wohnen in Berlin und pendeln. Stundenlöhne liegen wie in den anderen zwölf deutschen „Fulfillmentcentern“ bei rund 12 Euro. Damit ist Amazon zwar deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn, auf dem Berliner Mietwohnungsmarkt kommt man mit den rund 1.400 Euro netto, die in der Steuerklasse 1 übrigbleiben, aber nicht weit.
Seit 2011 betreibt Amazon zudem ein Callcenter im Dom- Aquarée in Mitte, wo etwa 400 Menschen arbeiten. Die Ansiedlung wurde seinerzeit vom damaligen Wirtschaftssenator Harald Wolf (Die Linke) als „gute Nachricht für den Wirtschaftsstandort Berlin“ gefeiert. 2015 nahm der Konzern ein Forschungs- und Entwicklungszentrum in den Krausenhöfen zwischen Leipziger Straße und Axel-Springer-Hochhaus in Betrieb. Hier arbeiten nach Firmenangaben „in 20 Teams Menschen aus über 50 Ländern an der Technologie-Zukunft des Unternehmens“ – die Rede ist von fast 500 hochqualifizierten IT-Fachkräften. Weil der Platz bald schon nicht mehr reichte, eröffnete Amazon 2017 einen zweiten Entwicklungsstandort im ehemaligen Kaufhaus Hertzog am Petriplatz auf der Fischerinsel, wo weitere rund 500 Entwicklungsangestellte beschäftigt sind. Vorgesehen ist, die beiden Niederlassungen 2023 in den Edge East Side-Turm zu verlegen. Ebenfalls in Berlin Mitte, in der Schumannstraße, arbeiten einige Dutzend Beschäftigte beim Hörbuchverlag Audible, einer hundertprozentigen Amazon-Tochter. Amazons Entwicklung wird vom Land Berlin unterstützt, etwa im Rahmen von Forschungskooperationen. So betreiben TU Berlin und Amazon ein gemeinsames Postdoc-Programm.  
Noch sind die meisten Amazon-Jobs in Berlin aber in Versandhandel und Logistik verortet und entsprechend bescheiden bezahlt. 2016 nahm der Konzern seine Expressauslieferstation am Kurfürstendamm in Betrieb. 55 Beschäftigte verschickten von hier aus im Drei-Schicht-Betrieb Pakete an Kund/innen des Amazon-Prime-Programms – zumindest in Teilen des Stadtgebietes. Berlin war neben München damals einer von zwei Teststandorten für den Prime-Now-Service. Weil es im Ku'damm-Karree zu eng wurde, ist Amazon mit seinem Expressdienst inzwischen ans Borsig-Gelände nach Tegel gezogen, wo man zuvor bereits ein Paketverteilzentrum und eine Filiale des Lebensmittel-Lieferdienstes Amazon Fresh in Betrieb genommen hatte. Ein weiteres Verteilzentrum mit rund 150 Beschäftigten eröffnete Amazon 2018 in Marienfelde. Wahrscheinlich 2020 will der Konzern ein neues Sortierzentrum bei Kiekebusch, in unmittelbarer Nähe des Autobahnkreuzes und Flughafens Schönefeld, eröffnen. Hier sollen 900 Arbeitsplätze entstehen.
Aktuell beschäftigt Amazon nach eigenen Angaben rund 2.800 Menschen in Stadt und Umland. Zusätzlich spricht das Unternehmen von „rund 7.300 Menschen bei kleinen und mittleren Unternehmen in Berlin und Brandenburg, die über Amazon ihre Waren verkaufen“. Dazu kommt eine nur schwer zu schätzende Zahl von Beschäftigten, die bei „Lieferpartnern“ oder als selbständige Subunternehmer/innen in der Paketzustellung für Amazon Logistics tätig sind. 2017 hatte der Konzern angefangen, seinen eigenen Lieferdienst aufzubauen, um sich von den großen Logistikunternehmen wie DHL und Hermes nach und nach unabhängig zu machen – eine Strategie, die aufzugehen scheint. So rechnet etwa DHL bis 2022 damit, 152 Millionen Pakete weniger für Amazon auszuliefern – das wäre ein Rückgang um 30%.
                               
Treiber der Gig Economy                
Amazon ist aber nicht nur Onlinehändler und Webspace-Anbieter, sondern auch einer der wichtigsten Pioniere und Treiber der Plattformökonomie, das heißt der digitalen Vermittlung von Transaktionen oder Dienstleistungen. So kreierte Amazon mit Mechanical Turk  2005 eine der ersten Plattformen für die digitale Vermittlung menschlicher Arbeit. Begriffe wie Crowdsourcing, Crowdworking, Clickworking und Gig Economy sollen das neue Phänomen beschreiben. Aber was ist damit gemeint? Amazon selbst erklärt es ungefähr so: Es gehe darum, „Worker (die, die Aufgaben ausführen) und Requester (die, die Aufgaben anbieten) zusammenzubringen“. Das können alle möglichen Aufgaben sein, Voraussetzung ist nur, dass sie „ein Computer allein nicht leisten kann“. Das klingt komisch, ist es aber nicht unbedingt. Oft geht es um simple Tätigkeiten wie Visitenkarten abtippen, Produktbeschreibungen erstellen, Filme untertiteln.
Das Modell ist längst zum Vorbild für eine kaum noch überschaubare Zahl von Unternehmen geworden, die alle möglichen Dienstleistungen anbieten, von der Vermietung von Ferienwohnungen (Airbnb) über Personentransport (Uber), Essenslieferdienste (Lieferando.de), haushaltsnahe Dienstleistungen (helpling.de, myhammer.de), Kurierdienste (mydaylivery.de) oder Datenerfassung und -bearbeitung (crowdguru.de). Offensichtlich ist jedenfalls, dass die Gig Economy in Berlin boomt: Die Radler/innen mit den Lieferando-Rucksäcken sind aus dem Straßenbild kaum noch wegzudenken, die Auswirkungen von Airbnb auf den Mietwohnungsmarkt sind gut dokumentiert. Wie viele Menschen in Berlin Gig Jobs ausüben, wie viele davon leben müssen und wie ihre Arbeitsbedingungen aussehen, darüber ist wenig bekannt.
Die bislang umfassendste Expertise wurde 2017 von der DGB-nahen Beratungsgesellschaft ArbeitGestalten erstellt. In der von der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales geförderten Studie „Der Job als Gig. Digital vermittelte Dienstleistungen in Berlin“ wird versucht, einen Überblick über in Berlin ansässige und aktive Plattformen und Einblicke in die Arbeitsrealität der Gigworker zu geben. Fazit: Berlin ist ein Hotspot der Gig Economy, und zwar in mehrfacher Hinsicht.  
                              
Risikokapital schafft prekäre Jobs            
Eine ganze Reihe von Plattformfirmen hat ihren Ursprung in der Berliner Start-up-Szene. Allein 2015 flossen 2,24 Milliarden Euro an Risikokapital nach Berlin – mehr als in jede andere Stadt in Europa. 2017 ging das Berliner Start-up Delivery Hero in Frankfurt an die Börse. Das Unternehmen  beschäftigt weltweit rund 5.000 Festangestellte und eine unbekannte Anzahl von Menschen in atypischen Arbeitsverhältnissen. Deren Job ist es, Essen aus Restaurants ohne eigenen Lieferdienst an Kund/innen zu liefern, vermittelt über eine mobile App. Mit Gesamterlösen von 789 Millionen Euro war die Emission der Delivery-Hero-Aktie der bis dahin drittgrößte Börsengang eines Internetunternehmens in Deutschland. Es gehört zu einem Drittel dem ebenfalls in Berlin ansässigen Konzern Rocket Internet, der sich selbst als „Start-up-Inkubator“ beschreibt und in Berlin einige Jahre mit den Tochterfirmen bzw. Marken Lieferheld, Foodora und Pizza.de unterwegs war. Anfang 2019 verkaufte Delivery Hero sein Deutschlandgeschäft für knapp eine Milliarde Euro an die niederländische Takeaway.com und konzentriert sich seitdem auf „chancenreichere Märkte“ wie Südamerika und Asien.
Die meisten Berliner Plattformfirmen sind aber nicht in der Essenslieferung aktiv, sondern in der Vermittlung von Pflegediensten. 2007 wurde – finanziert von Rocket Internet und der Holtzbrinck-Gruppe – die Plattform betreut.de gegründet. 2012 wurde das Unternehmen an die US-amerikanische Plattform care.com verkauft, den mit 24 Millionen registrierten Nutzer/innen weltweit größten digitalen Vermittler für Betreuungsdienstleistungen. 2015 entstand mit vier Millionen Dollar amerikanischen Risikokapitals in Berlin die Plattform Careship, mit insgesamt rund 550 Betreuungskräften in Berlin, Hamburg, Frankfurt und Düsseldorf. Die vermittelten Care Worker handeln ihre Stundenlöhne individuell aus, Careship übernimmt die Rechnungsstellung und Abrechnung mit den Krankenkassen und erhebt dafür eine Provision von 20%. Die dritte in Berlin einschlägig aktive Plattform ist das 2016 an der Universität Witten/Herdecke im Ruhrgebiet gegründete Unternehmen Pflegix mit inzwischen mehr als 7.000 Betreuungskräften in 30 Städten deutschlandweit.
Mit Helpling und Book a Tiger wurden 2014 zwei Vermittlungsplattformen für Reinigungsdienste in Berlin gegründet. Helpling arbeitet inzwischen weltweit mit 30.000 Reinigungskräften, in Deutschland mit 5.000, in der Regel Solo-Selbständigen. Den dritten Schwerpunkt bilden die bereits erwähnten Lieferdienste: Seit 2015 war die aus London stammende Deliveroo in Berlin aktiv, deren Geschäft inzwischen an die bereits 2009 in Berlin gegründete Firma Lieferando übergegangen ist, die zur niederländischen Takeaway-Gruppe gehört. Weniger bekannt ist das 2015 in Berlin gegründete Unternehmen Packator, das auf die Versendung von Paketen spezialisiert ist. Dazu kommen Handwerkervermittlungen wie die 2015 in Berlin entstandene Firma Homebell, die deutschlandweit rund 400 Handwerksbetriebe mit rund 3.500 Mitarbeiter/innen vermittelt, Plattformen für Umzugshilfen (Move24), Massagen (Massagio) und Escortdienste (Ohlala).         

                                      
Grauer Arbeitsmarkt                
Nicht sehr ergiebig und eher schlaglichtartig ist die Expertise hinsichtlich der Arbeitsbedingungen. Ein Foodora-Kurier berichtet über Stundenlöhne von neun Euro. Ein Wochenendzuschlag von zehn Euro sei 2017 gestrichen worden. Immerhin sei ihm nach einem Arbeitsunfall sein Lohn auf Basis des Durchschnittseinkommens der letzten drei Wochen weitergezahlt worden. Ob dies bei Plattformunternehmen allgemeine Praxis ist, darf bezweifelt werden. Wahrscheinlich ist, dass der Streik bei Deliveroo und Foodora im Frühjahr 2017 die Unternehmen in Bezug auf den Umgang mit ihren Fahrer/innen vorsichtiger gemacht hat.
Für die meisten Berliner Gigworker, so das Fazit der Studie, handele es sich um eine überbrückende Tätigkeit bzw. um einen vorübergehenden, gelegentlichen oder ergänzenden Zuverdienst. Insbesondere bei den Liefer- und Reinigungsdiensten sei die Fluktuation sehr hoch. Die meisten Gigworker blieben nicht länger als ein halbes Jahr und arbeiteten weniger als 20 Stunden die Woche.
Wie viele Menschen in Berlin tatsächlich in plattformvermittelten atypischen Arbeitsverhältnissen tätig sind und für wie viele dies  die Haupterwerbsquelle ist, weiß kein Mensch. „Unser Haus hat dazu keine Daten“, heißt es lapidar aus der Senatsverwaltung für Wirtschaft. In der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales hat man immerhin einige Studien zur Situation von Gigworkern in Auftrag gegeben und unterstützt eine Initiative der Fairwork Foundation und des Oxford Internet Institute (OII) zur Entwicklung eines Zertifizierungssystems für faire Arbeit in der digitalen Plattformökonomie. Derzeit werden mit einem Modellprojekt in Berlin Prinzipien für die Bewertung von Gigwork-Plattformen erprobt. Erklärtes Ziel ist es, Druck auf die Plattformbetreiber auszuüben, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Berlin betrachten diese vielen Unternehmen „als Testmarkt für neue Arbeitsformen", so die Einschätzung von Senatorin Elke Breitenbach (Die Linke). „Wir sehen dies als Chance, neue Erwerbsformen mitzugestalten und treten dabei für gute Arbeit ein.“ Die Veröffentlichung der Bewertungen für Berliner Plattformen durch die Fairwork Foundation ist für März 2020 geplant.   

Jörn Boewe arbeitet als freier Journalist für das Gemeinschaftsbüro „work in progress“. Zum Thema Amazon erschien von ihm (mit Co-Autor Johannes Schulten) „Der lange Kampf der Amazon Beschäftigten. Labor des Widerstands. Globale Organisierung im Onlinehandel“, Herausgeber: Rosa-Luxemburg-Stiftung.


MieterEcho 407 / Januar 2020

Schlüsselbegriffe: Amazon,Gentrifizierung,prekär