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MieterEcho 409 /

Freie Bahn für das Kapital

Die 2006 erfolgte Novelle des Genossenschaftsgesetzes erlaubt die Abkehr von alten genossenschaftlichen Prinzipien

Von Rainer Balcerowiak

 

Im Juni 2006 verabschiedete der Deutsche Bundestag gegen die Stimmen der Linksfraktion ein neues Genossenschaftsgesetz, das sowohl die möglichen Geschäftsfelder als auch die wirtschaftliche und organisatorische Struktur der Genossenschaften erheblich veränderte. Der Bundestag folgte damit einer verbindlichen Verordnung der Europäischen Union aus dem Jahr 2003. Das dort verankerte Statut der Europäischen Genossenschaft (SCE = Societas Cooperativa Europaea) erlaubte erstmals die Zulassung von „investierenden Mitgliedern“ sowie die Möglichkeit, per Satzung Mehrfachstimmrechte zu gewähren.                             

Mit einigen Grundprinzipien des am 1. Mai 1889 in Kraft getretenen und in weiten Teilen bis 2006 gültigen „Reichsgesetzes betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften” wurde  gebrochen. Denn ursprünglich sollten diese Zusammenschlüsse als gemeinschaftlicher Geschäftsbetrieb allen Menschen in den jeweiligen Bereichen offen stehen. Geregelt wurde das Genossenschaftswesen für Kredit- oder Rohstoffvereine, Absatzgenossenschaften, Produktivgenossenschaften, Konsumvereine, landwirtschaftliche Zusammenschlüsse und Vereine zur Herstellung von Wohnungen. Grundlagen waren die Zeichnung von Genossenschaftsanteilen und das einfache Stimmrecht für jedes Mitglied.
Mit dem neuen Gesetz wurden zum einen neue Geschäftsfelder einbezogen, wie etwa Kindergärten und Pflegeeinrichtungen. Auch die Zahl der Genossenschaftsmitlieder kann nunmehr begrenzt werden. Dienten Genossenschaften ursprünglich ausschließlich dem gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb, so ermöglicht das neue Gesetz die reine Kapitalanlage mit dem Ziel, eine möglichst hohe individuelle Rendite zu erzielen.                         
Mehr Macht für Vorstände               
Noch 2001 hatte das Bundesverfassungsgericht die ursprüngliche Ausrichtung der Genossenschaften in einem Urteil ausdrücklich bestätigt. Es gehe darum, „die Rechtsform der Genossenschaft als Mittel zur Selbstverwaltung und Selbstorganisation tendenziell wirtschaftlich Schwacher aufrechtzuerhalten und die Voraussetzungen zu schaffen, dass diese Rechtsform im Wirtschaftsleben bestehen kann. (...) Durch sie soll eine selbstbestimmte, vergleichsweise risikolose Teilhabe breiter Bevölkerungskreise am Wirtschaftsleben sichergestellt werden, um gleichzeitig dem Ziel einer gerechten Sozialordnung ein Stück näher zu kommen.“
Mit den europäischen SCE lassen sich diese Prinzipien kaum vereinbaren. Sie können sich – egal wo sie gegründet wurden – in jedem Staat der EU niederlassen, wenn ihre Mitglieder aus mindestens zwei EU-Staaten kommen. Geschäftsanteile sind übertragbar. Ferner sind „Sachgründungen“ möglich, bei denen es nicht auf die Befriedigung von Bedürfnissen der Mitglieder wie Versorgung mit Wohnungen oder Lebensmitteln ankommt, sondern auf Produktion von Waren und Dienstleistungen zur Verwertung des angelegten Kapitals.


Durch die Neufassung haben sich auch die Einflussmöglichkeiten der einzelnen Mitglieder verschlechtert. Werden größeren Anteilseigner/innen Mehrfachstimmrechte gewährt, sinkt die Bedeutung der Einzelstimme. Zudem können Genossenschaften seit 2006 das Recht auf Bestellung und Abberufung des Vorstands auf den Aufsichtsrat übertragen.
Sowohl Vorstand als auch Aufsichtsrat dürfen jetzt außerdem auch Vertreter/innen „anderer juristischer Personen oder Personengesellschaften“ angehören, wenn diese als Ganzes
Mitglied der Genossenschaft sind.               


Generell eröffnete das neue Gesetz den Genossenschaften beträchtliche Spielräume, um per Satzung die Kompetenzen des Vorstands zu erweitern. So können Wohnungsbaugenossenschaften festlegen, dass Wohnungen auch ohne Information oder gar Zustimmung der Mitglieder verkauft oder abgerissen werden. Zusammen mit dem Aufsichtsrat kann ferner über Fremdbeteiligungen und die Gründung von Tochterunternehmen entschieden werden. Die Annäherung an die Organisationsformen  „normaler“ Aktien- und Personengesellschaften ist offensichtlich – und war vom Gesetzgeber wohl auch genau so gewollt.       


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