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MieterEcho 419 / August 2021

Es geht noch neoliberaler

Vonovia und der französische Wohnungsmarkt

Interview mit Jean-Pierre Troche

MieterEcho: Der Vonovia-Vorstandsvorsitzende Rolf Buch spricht sich für die Liberalisierung des französischen Wohnungsmarktes aus. Was würde eine weitere Liberalisierung bedeuten?

Jean-Pierre Troche: Die urbanistische Gruppe AITEC und ihre Partner, insbesondere der Verein „Droit au Logement“, sind besorgt über die sehr liberalen Reformen im sozialen Wohnungsbau in Frankreich. Wir führen zu diesem Thema Analysen und Aufklärungsarbeit mit sozialen Bewegungen, Bewohner- und Mieterverbänden durch. Die Entwicklungen sind durchaus vom Modell der Immobiliengesellschaften wie Vonovia inspiriert. Sie ähneln dem, was in Deutschland mit der Gründung von Vonovia geschah, die aus der Fusion mehrerer Strukturen hervorging, welche zuvor Sozialwohnungen und von Unternehmen für ihre Mitarbeiter/innen geschaffene Wohnungen verwalteten, wobei diese Fusionen im Rahmen des Privatisierungsgesetzes von 1990 stattfanden.
In Frankreich zwingt heute ein neues Gesetz die Sozialwohnungs-Organisationen „Habitation à loyer modéré“ (HLM), sich zusammenzuschließen, um einen echten Immobilienriesen in der Größenordnung von Vonovia zu schaffen. So verfügt beispielsweise die Gruppe „CDC Habitat“, die durch die Zusammenlegung aller Strukturen, an denen das staatliche Finanzinstitut „Caisse des Dépôts“ (CDC) beteiligt ist, über mehr als 500.000 Wohnungen, darunter mehr als 350.000 Sozialwohnungen aus dem HLM-Sozialwohnungsbestand. Die Gruppe „Action Logement“ hat 950.000 Wohnungen zusammengefasst.

Grundsätzlich ändert sich das ökonomische Modell. Zuvor basierte es auf einem mietwirtschaftlichen Gleichgewicht, bei dem die Mietpreise die Erstattung der Verwaltungs- und Instandhaltungskosten ermöglichten, sowie auf subventionierten Darlehen der Caisse des Dépôts, die zur Finanzierung der Investitionen für den nicht durch Subventionen abgedeckten Teil mobilisiert wurden. 

Der Verkauf von Sozialwohnungen war marginal. Heute müssen die HLM-Organisationen wie spekulative Privatinvestoren fungieren: Die Subventionen sind weggefallen und sie sind gezwungen, sich teilweise durch den Verkauf ihres Besitzes zu finanzieren. Wir werden also Zeuge einer Entwicklung, die man mit einer regelrechten Privatisierung und einer Finanzialisierung des sozialen Wohnungsbaus vergleichen kann, der in Immobilienkonzerne umorganisiert wird, die mehr und mehr wie Vonovia aussehen.

Vonovia und die französische Gruppe „Société nationale immobilière“ (SNI) unterzeichneten 2017 eine Partnerschaftsvereinbarung. Wer ist die SNI?

Die Vonovia-Gruppe kommuniziert sehr wenig. Soweit bekannt begann die Aktivität in Frankreich mit der Partnerschaftsvereinbarung, die 2017 mit der SNI unterzeichnet wurde.

Historisch ist die SNI ein öffentliches Unternehmen in Form einer gemischtwirtschaftlichen Gesellschaft mit der Caisse des Dépôts und dem französischen Staat als Anteilseigner. Sie wurde gegründet, um Sozialwohnungen für das Militär und die Gendarmerie bereitzustellen. Zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der Vereinbarung war die Caisse des Dépôts gerade Mehrheitsaktionärin der SNI geworden und hatte begonnen, die SNI mit anderen Strukturen des sozialen Wohnungsbaus zu fusionieren. Heute ist die SNI in die Mega-Immobiliengruppe CDC Habitat integriert. Dabei handelt es sich um eine Entwicklungspartnerschaft zur Suche nach gemeinsamen Investitionsmöglichkeiten für Vonovia und die Caisse des Dépôts-Gruppe, auch um den Austausch zwischen Vonovia und der CDC-Gruppe zu erleichtern. 

2018 erwarb Vonovia, als Teil eines Konsortiums, Wohnungen der „SNCF“-Gruppe in Frankreich. Um welche Wohnungen handelt es sich und was ist die SNCF?

In diesem Fall handelt es sich um Wohnungen, die von den Eisenbahngesellschaften vor der Verstaatlichung und der Gründung der SNCF und dann von der SNCF gebaut wurden, um ihre Angestellten in Wohnungen unterzubringen, die von zwei Einrichtungen verwaltet werden: Die „ICF“ für den sozialen Wohnungsbau und „Vesta" für den mittleren und freien Wohnungsbau. Die SNCF, die angesichts ihrer Schulden Vermögenswerte verwerten wollte, verkaufte 2018 hauptsächlich private und freie Wohnungen von der Vesta-Gruppe für 1,4 Milliarden Euro an ein privates Konsortium, bestehend aus CDC Habitat und Vonovia.

In Deutschland ist Vonovia als Mietpreistreiber bekannt. Wie ist in Frankreich der Mieterschutz organisiert?

HLM-Mieter/innen können Gewerkschaften beitreten und Vertreter/innen in den Vorstand der Sozialwohnungs-Vermieter wählen. Wir sind besorgt, weil die aktuellen Reformen die Vertretung der Mietergewerkschaften innerhalb der neuen Gruppierungen erheblich schwächen.

Im Moment werden Mieterhöhungen für Sozialwohnungen, die von diesen Einrichtungen verwaltet werden, durch ein jährliches Dekret geregelt. Auf der anderen Seite steigen die nicht regulierten Kosten für Heizung, Wasser und Wartung erheblich.

Wie ist die allgemeine Situation von Mieter/innen in Frankreich?

Es gibt 12 Millionen Mietwohnungen, d. h. 40% derHauptwohnsitzbestände insgesamt. Die Situation der Mieter/innen ist recht verschieden, je nachdem, ob sie in den 5 Millionen Sozialwohnungen oder in privaten Mietwohnungen leben. 

Derzeit, und noch mehr infolge der Gesundheitskrise, die auch eine soziale Krise ist, gibt es große Spannungen, ungeachtet der Art der Wohnung: Rückgang der Einkommen, Anstieg der Mieten und Gebühren, Rückgang der Wohnbeihilfen. Der Anteil des Einkommens, den die Mieter/innen für Miete und Wohnkosten ausgeben, beträgt im Durchschnitt 36%, bei den ärmsten 10% der Haushalte bei über 43%. Mehr als jeder fünfte Franzose lebt in einer Sozialwohnung oder hat eine Sozialwohnung bewohnt. Für Haushalte in Sozialwohnungen gelten geregelte Mieten mit jährlich vom Staat festgelegten Höchstbeträgen und die Miete wird für Haushalte mit niedrigem Einkommen teilweise durch ein Wohngeld gedeckt, das auf der Grundlage von Miete und Einkommen berechnet wird – die „Aide Personalisée au Logement“ (APL), die vom Staat finanziert und von den „Caisses d'allocation familiale“ ausgezahlt wird.

In Metropolenregionen reicht die Zahl der Sozialwohnungen nicht aus, um den Bedarf zu decken, was zu Ausgrenzung auf dem Wohnungsmarkt führt und arme Haushalte zwingt, in heruntergekommenen und oft unbewohnbaren privaten Mietwohnungen zu leben. 

Im Gegensatz zu den Sozialwohnungen sind die Mieten im privaten Sektor nicht oder kaum reguliert; sie werden von dem/der Eigentümer/in bei Abschluss des Mietvertrags für einen Zeitraum von drei Jahren festgelegt. Diese Mieten sind in den letzten zehn Jahren viel schneller gestiegen als die Inflation.

Gibt es Programme der Regierung zur Schaffung von bezahlbarem Wohnraum in Frankreich?

In der Vergangenheit hat der Staat den Bau von Sozialwohnungen subventioniert und sehr zinsgünstige Darlehen der CDC ergänzten den Finanzierungsplan. Der sehr niedrige Satz der CDC resultiert aus der Nutzung der Mittel, die durch die Inanspruchnahme der Ersparnisse der Bevölkerung, des „Sparbuchs A“, entstanden sind und dem privaten Bankwesen vorenthalten wurden. Heute ist ein Teil dieser Gelder in die Hände privater Banken übergegangen, während der Staat den sozialen Wohnungsbau kaum noch subventioniert, sondern nur noch Genehmigungen erteilt, die es ermöglichen, einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz in Anspruch zu nehmen. Die HLM-Organisationen sind daher gezwungen, für den Bau von Sozialwohnungen andere Finanzierungsquellen zu erschließen, zum Beispiel durch den Verkauf von Teilen ihres eigenen Wohnungsbestands.

Frankreich ist eher zentralistisch organisiert ist. Gibt es dennoch regionale Unterschiede?

Es gibt erhebliche regionale Unterschiede, die auf den schwierigen Zugang zu Grundstücken und lokale Behörden zurückzuführen sind, die keine Sozialwohnungen in ihrem Gebiet haben wollen. Die regionale Kompetenz wurde in den letzten 20 Jahren gestärkt und die Befugnisse nach und nach auf Gemeindeverbände übertragen. Das landesweite SRU-Gesetz verpflichtet lokale Gemeinden mit mehr als 2.500 Einwohnern im Umkreis einer Großstadt zur Durchführung von Wohnungsbauprogrammen, um bis 2025 einen Anteil von 25% Sozialwohnungen am gesamten Wohnungsbestand zu erreichen. Die Umsetzung dieses Gesetzes ist jedoch aufgrund des fehlenden politischen Willens einiger Gemeinden nach wie vor mangelhaft.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch führten Grischa Dallmer und Matthias Coers.

 

Jean-Pierre Troche, 67 Jahre, ist Architekt, Stadtplaner und beratender Forscher auf dem Gebiet des öffentlichen Wohnungsbaus. Er arbeitet in dem Forschungsbüro Ville et Habitat und ist aktiv bei der urbanistischen Arbeitsgruppe von AITEC.


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