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MieterEcho 414 / Februar 2021

"Die Mächtigen haben Angst vor uns"

Die brutale Räumung einer Siedlung in Guernica zeigt exemplarisch die Bedeutung der Bodenfrage in Argentinien

Von Paula Maether

In der Nacht zum 29. Oktober räumte die Polizei der Provinz Buenos Aires mit 4.000 Beamten die Besetzung von Guernica. Mit Unterstützung von Hubschraubern und massiver Gewalt wurden mehr als 2.500 Familien vertrieben, die verzweifelt einen Platz zum Wohnen suchten. Dieses Ereignis, das sogar den Weg in die hiesigen Medien fand, rückte die Boden- und Wohnungsfrage ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung in Argentinien.

Im Juli 2020 war das Brachland in Guernica, einem Stadtteil an der Peripherie der Provinz Buenos Aires, von insgesamt über 6.000 Menschen, darunter vielen alleinstehenden Frauen mit Kindern, besetzt worden. Zum großen Teil waren es Arbeiterinnen, die durch die Pandemie ihre Jobs und damit auch ihre Wohnungen verloren haben. Sehr schnell wurden Delegierte zur Vertretung der neuen Nachbarschaften gewählt und diverse Kommissionen gegründet. Der hohe Organisationsgrad und die Bildung kollektiver Strukturen sind wesentliche Elemente, um dem Wohnungsnotstand begegnen zu können. Die exemplarische Bedeutung der Besetzung beschrieb eine Aktivistin: „Die Mächtigen haben Angst vor uns, weil wir uns organisieren können, weil wir aufstehen und noch viel mehr tun können.“

Das fehlende Recht auf Land und den Zugang zu Wohnraum, Trinkwasser, Kanalisation, Strom und Gas stellen eines der schwerwiegendsten Strukturprobleme Argentiniens dar. In Argentinien fehlen 3,5 Millionen Wohnungen, alleine in der Stadt Buenos Aires sind es rund 900.000. Eines der Haupthindernisse für den Bau von erschwinglichem Wohnraum sind die Grundstückspreise. Nach Daten des Mieterbündnisses von Buenos Aires wenden die Mieter/innen in der Hauptstadt im Durchschnitt derzeit 49,5% ihrer Einkommen für die Miete auf. Eine explosive Situation, die im Schatten der Pandemie vielen Menschen das Dach über dem Kopf kostete.

Besetzungen haben Tradition

Landbesetzungen sind nicht neu in Argentinien, wobei die 1980er Jahre den bisherigen Höhepunkt darstellen. Es gab eine starke Bewegung,  vor allem in der Provinz Buenos Aires mit symbolträchtigen Besetzungen in La Matanza im Westen der Provinz. Dort erhielten die organisierten Nachbarn/innen nach jahrelangen Kämpfen den legalen Besitz sowie den Zugang zu Infrastruktur. Heute lebt in Argentinien jeder zehnte Mensch in einer der 4.228 Siedlungen, die in der Vergangenheit durch Landbesetzungen erkämpft und teilweise legalisiert wurden.

Das neue Problem, mit dem auch die Besetzer in Guernica konfrontiert sind, ist die Zunahme von gehobenen Privatquartieren in Form von gated communities in der Peripherie der Hauptstadt. Dies führt zur direkten Konfrontation mit ärmeren Teilen der Bevölkerung, deren Vertreibung in stadtfernere Areale angestrebt wird. Im gesamten Ballungsgebiet von Buenos Aires gibt es etwa 600 gated communities, die eine Fläche von fast 50.000 Hektar umfassen, für lediglich rund 300.000 Einwohner, wie der Geograph Ricardo Apaolaza in einer Studie festhält. Viele dieser bewachten Gemeinden und privaten Bauprojekte wie Golfplätze oder Country Clubs können nicht nachvollziehbar belegen, wie sie zu dem Land gelangten. Nur selten haben staatliche Regulierungsbehörden dies untersucht, um die Rechtmäßigkeit dieser Bauprojekte festzustellen.

Im Fall von Guernica handelten die Behörden dagegen sehr schnell, um die Besetzung als illegal zu deklarieren. Und dies, obwohl die Firma Bellaco S.A. das Recht auf den Boden für sich beansprucht, ohne über die notwendigen Papiere zu verfügen. Guernica bedeutet einen Wendepunkt des mit vielen Hoffnungen verbundenen Regierungswechsels des vergangenen Jahres. Ricardo Apaolaza fasst zusammen: Das Modell der ausgrenzenden Stadterweiterung durch gated communities zeige, wie staatliche Justiz und Repressionsapparat als Garant des spekulativen privaten Landbesitzes agieren und dabei die gewaltsame Vertreibung von 2.500 Familien in Kauf nehmen.

 

Paula Maether, in Buenos Aires geboren, ist Sozialarbeiterin. Seit 2003 lebt sie in Berlin. Sie forscht über Migrationsprozesse und Sozialpolitik.

Agustina Salinas ist Näherin und Grafikreporterin. Sie ist Mitglied von Revista Cítrica und La Obrera Colectivo Fotográfico. 


MieterEcho 414 / Februar 2021