Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 409 /

„Der letzte Rest sozialistischer Wohnraumwirtschaft“

In Großbritannien wird der öffentliche Wohnungsbestand in großem Stil zerstört, wie das Beispiel Glasgow deutlich macht

Interview mit Neil Gray    
   

           
MieterEcho: Was geschieht mit den öffentlichen Wohnbauten? Überall sind Abrisse zu sehen.
Neil Gray: Von diesem Hügel aus sehen wir die Wohntürme von Sighthill, die ganz nah am Stadtzentrum liegen. 1964 wurden hier 10 Blöcke gebaut mit etwa 2.500 Wohnungen für 8.000 bis 10.000 Menschen. Wie bei vielen Hochhäusern waren fehlende Investitionen und Vernachlässigung prägend – nicht nur den Häuserblocks sondern auch den Bewohner/innen gegenüber.
Mit den Jahren wurde die Gegend immer stärker stigmatisiert. Das verschlimmerte sich, als eine Vielzahl von Asylsuchenden nach Sighthill zog. Ähnliches ging in vielen anderen Hochhäusern der Stadt vor, denn die hiesige Verwaltung konnte gut daran verdienen, Asylsuchende unterzubringen. Dafür flossen Gelder vom Innenministerium.
Mitte der 2000er hieß es, man wolle die Gebäude abreißen. Dagegen bildete sich starker Widerstand durch die Community-Gruppe „Sighthill Save Our Homes“ in Verbindung mit der Initiative „Glasgow Save Our Homes“.
Zusammen kämpften sie gegen die Privatisierung durch den sogenannten Stock Transfer. Beim britischen Stock Transfer steht den Mieter/innen zur Wahl, ob sie in öffentlichem Wohnungsbestand, im Council Housing wohnen bleiben wollen, wo nach 20 Jahren Vernachlässigung weiter nicht investiert wird, oder ob sie der Übertragung hin zu einer privaten Wohnungsgesellschaft zustimmen, um Renovierungen, eine neue Küche und Mietschuldenerlasse zu bekommen. In Glasgow wurden 81.000 Wohnungen durch Stock Transfer übertragen. Doch auch in vielen anderen Städten wie Edinburgh wurde dagegen gekämpft.
Gegen den angekündigten Abriss der Blöcke entgegneten lokale Community- und Mieter/innen-Aktionsgruppen: „Auf keinen Fall!“ Als Kompromiss wurden zwischen 2007 und 2008 fünf Blöcke abgerissen. Die Verwaltung versicherte, der Rest würde erhalten bleiben. Doch dann änderte sie dahingehend ihre Meinung, auch die verbliebenen fünf Blocks abreißen zu wollen. Nach Protesten wurde 2008/2009 eingelenkt, nur drei der fünf abzureißen und die letzten beiden definitiv zu verschonen. Mitte 2016 wurden eben diese zwei Wohnblocks zerstört.
2007 startete ein Programm namens „Communities transformieren: Glasgow“. Es umfasst acht Stadtgebiete mit einem Bestand von 11.000 Wohnungen, deren Vermieter die Glasgow Housing Association ist. Anfangs sollten alle zum öffentlichen Bestand zählenden 11.000 Wohnungen abgerissen werden, um sie durch 6.000 private Mietwohnungen und 3.000 Sozialwohnungen zu ersetzen. Dieser Plan hätte zu einem Nettoverlust von 8.000 Sozialwohnungen in den acht Stadtgebieten geführt, Sighthill darunter das größte. Der Plan wurde überarbeitet, jetzt werden 6.500 private Mietwohnungen gebaut – sobald alle 11.000 öffentlichen Wohnungen abgerissen sind. Dazu wird es 650 Sozialwohnungen geben. Das heißt einen Verlust von rund 10.400 Sozialwohnungen seit 2007/2008.                           

Wo sind all die Menschen hin?                            
Das ist schwer zu beantworten — wie immer. Wahrscheinlich noch in Glasgow – die Stadt hatte einen hohen Anteil an öffentlichen und sozialen Wohnungen im Vergleich zu den meisten britischen Städten. Manche Menschen konnten in andere öffentliche Wohnnungen wechseln, aber mehr und mehr werden nun in private Mietwohnungen gedrängt. Es gab eine Zeit, da konnte man einen Häuserblock abreißen und es gab noch andere Wohnungen im Überfluss. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Die Recherche, wo die Menschen hin sind, ist sehr ressourcenintensiv. Ich kann das nicht genau sagen, aber ich weiß, dass von den 2.500 Mietparteien von 1964 hier keine eine der 140 Sozialwohnungen bekommen wird.
Das Ausmaß des Abrisses ist massiv, unter anderem, da die Stadt immer einen hohen Anteil an Sozialwohnungen hatte. Unter der Labour-Regierung, die zumindest nach links blinkte, mit sozialdemokratischen Zielen, wurde so einiges erreicht. Aber in den 80ern fing New Labour an, den Bestand  in private Mietwohnungen umzuwandeln. Und jetzt ist die Labour Party eine neoliberale Partei par excellence geworden. Deren politische Reorientierung hat zu einem Privatisierungsvirus geführt, denn die Stadt war immer unter Kontrolle der Labour Party.                        

Sind die Gebäude hinter diesen Blocks später erbaut worden?             
Da bin ich mir nicht sicher, die stehen in Springburn, davor verläuft eine Straße. Aber interessant ist: Vor zwei Jahren konnten wir hier die Red Road Blocks sehen, sieben massive Hochhausblöcke. Viel weiter weg, doch sie dominierten  den Ausblick hier. Die Red Road Blocks wurden allesamt 2015 abgerissen. Es waren die höchsten Hochhäuser in Glasgow, abgesehen von zwei Blöcken im Osten der Stadt. Die Gebäude wurden berühmt, es gab einen Film, der sehr umstritten war. Zum Ende hin wohnten dort auch viele Asylsuchende. Diese beiden Häuserblockstrukturen – an der Red Road und in Sighthill – waren sehr wichtig für symbolische Diskurse, territoriale Stigmatisierung, Diskussionen über Verödung und Verfall in der Stadt. Diese Debatten sind Ausdruck einer Verschiebung der Diskussion nach rechts, weg von angemessenem öffentlichen Wohnungsbestand hin zu residualem Wohnungsbestand – die zweite Wahl hinter dem Kauf der eigenen Wohnung oder privatem Mieten. Aber da ich früher oft hierhergekommen bin, weiß ich von einer damals aktiven Community in Sighthill, die Widerstand gegen diesen Prozess geleistet hat. Die Gegend ist auch durch die M8, die Autobahn, die durch die Stadt gehauen wurde in den 1960ern, vom Stadtzentrum abgeschnitten. Es ist hier sicherlich kein dichtes Stadtgefüge, fragmentiert, zerrüttet – schwierig, hier einen Grad an Organisierung aufrechtzuerhalten. Die Menschen hier haben ziemlich isoliert gearbeitet, mit ein paar Beziehungen zu den Mieternetzwerken im Stadtzentrum. Aber das ist ohne eine große Bewohneranzahl und mit einem Jahr für Jahr fortschreitenden Abriss auf Dauer schwer zu leisten.                            

Kommt diese Zerstörung im kollektiven Gedächtnis der Glasgower vor?                         
Schon, doch weniger als der Abriss der Red Road-Wohnungen, was aber auch besonders widerlich war. Bei der Eröffnung der Commonwealth Games, dem großen Sport- und Mega-Event, das im Osten der Stadt 2014 stattfand, war eine Idee der Stadtverwaltung, einen Livestream des Abrisses der Red Road-Hochhäuser zur Eröffnungsfeier zu senden. Da gab es einen riesigen  Aufschrei in der Stadt und in ganz Schottland. Es war einfach absolut geschmacklos und offen gesagt ziemlich brutal, darüber überhaupt nachzudenken. Dagegen gab es eine große Online-Kampagne und die Idee wurde letztendlich fallen gelassen. Aber die Häuserblöcke wurden trotzdem abgerissen.
Der Umfang der Zerstörung von Hochhäusern ist wirklich phänomenal. Es scheint, als ob überall, wo man hinschaut, gerade ein Häuserblock abgerissen wird. Als ob der letzte Rest sozialdemokratischen öffentlichen Wohnungsbaus, sozialistischer Wohnraumwirtschaft – wie man es auch nennen mag – vom Horizont getilgt werden soll. Und als Modell gilt so das privatisierte Häuschen mit Garten davor und dahinter.
Diese Veränderung war sehr dramatisch in Großbritannien, insbesondere in London. Die Wohnungsgesellschaften bauen jetzt für den privaten Miet- und Eigentumsmarkt. Sie sollten aber Wohnungen mit leistbaren Mieten erzeugen.    

                   
Wie wird die Misere weitergehen?
                   
Selber habe ich viele Informationen darüber und müsste dazu schreiben, es verbreiten, mehr Menschen davon in Kenntnis setzen. Aber generell liegt Sighthill hier hinter dem Hügel. Die Menschen sehen es nicht vom Stadtzentrum aus. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Was aber ebenso wichtig ist, die Gegend hier, sehr nah am Stadtzentrum, besteht aus hunderten Morgen Brachland. Das heißt, das Abreißen dient auch dazu, Land aufzuteilen und die Gegend potentiell profitabel zu machen für Immobilieninvestitionen. Aus der Sicht der Planer/innen und der Entwickler/innen muss dieses Bild verschwinden aber auch die Menschen, die in solchen Gebäuden leben. Das Areal räumen, die Spuren vernichten und dann eine ganz andere Klientel sich hier ansiedeln lassen.                            

 

Das Interview führten und übersetzten aus dem Englischen Matthias Coers und Grischa Dallmer.

Der Stadtforscher Neil Gray beschäftigt sich an der University of Glasgow mit Council Housing in Großbritannien, neoliberalem Urbanismus und räumlicher Ordnung im rezessionsgezeichneten Glasgow. Er arbeitet am Horizont-2020-Forschungsprojekt „Municipal Action, Public Engagement and Routes Towards Energy Transition“.

Die Filmfassung des Interviews vom Sommer 2016 ist auf dem YouTube-Kanal Wohnen in der Krise zu finden: www.youtube.com/WohneninderKrise


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