Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 410 /

„Das zentrale Nadelöhr sind die Wohnungen“

Interview mit Volker Busch-Geertsema

Im Oktober 2018 startete das Land Berlin ein Pilotprojekt für Housing First in der Wohnungslosenhilfe. Innerhalb von drei Jahren sollen die Träger, die Berliner Stadtmission e.V. und die Neue Chance gGmbH, 40 Wohnungen an Wohnungslose vergeben. Bei über 37.000 Wohnungslosen und geschätzten 2.000 bis 10.000 Obdachlosen in der Stadt hat das Projekt vor allem symbolischen Wert. Volker Busch-Geertsema berät das Projekt und fordert mehr staatliche Maßnahmen, um den Ansatz auszuweiten.   

                                   
MieterEcho: Die COVID-19-Pandemie ist für Menschen ohne schützendes Obdach eine besondere Gefahr. Der Berliner Senat mietete in der Krise temporär Jugendherbergen, Hostels und Wohnheime an, um Wohnungslose unterzubringen und gegebenenfalls in Quarantäne zu schicken. Was halten Sie von dieser Strategie?           
Volker Busch-Geertsema: Die vielerorts bereits vor Corona zu beobachtende Tendenz, den Sonderwohnbereich zu erweitern, hat sich angesichts der Pandemie leider sehr stark ausgeweitet. Hostels anzumieten kann nur eine vorübergehende, absolute Notmaßnahme sein. Wenn man die Leute nach Abflauen der Krise wieder auf die Straße schickt, wäre das echt ärgerlich. In der Vergangenheit hat sich oft erwiesen, dass nichts beständiger ist als Provisorien. Als Notmaßnahme, damit Menschen nicht im Freien übernachten müssten, sind sie verständlich. Aber es bräuchte Anschlussperspektiven, wie man Wohnungslose in regulären Wohnraum bekommt und ein Konzept, um möglichst schnell viele normale Wohnungen zugänglich zu machen.      

                     
In der politischen Debatte spielen Tiny Houses, also kleine, teils mobile und aus Holz gezimmerte Unterkünfte, eine zunehmende Rolle. Die Sozialgenossenschaft Karuna hat „Safe Spaces“ ins Gespräch gebracht, wo Obdachlose legal in Tiny Houses oder Zelten leben könnten. Wie stehen Sie zu solchen Ideen?                   
Ich finde das für so ein reiches Land wie Deutschland wirklich beschämend. Wir kennen die Safe-Space-Debatte aus den USA, wo Leute jahrelang in ihren Autos irgendwo auf einem Parkplatz schlafen, wo sie nicht behelligt werden. Es ist kein menschenwürdiger Ansatz, jemanden auf zwei bis drei Quadratmetern unterzubringen. Allerhöchstens dienen Tiny Houses dazu, den jetzigen Zustand zu skandalisieren. Wohnungslose haben kaum andere Ansprüche an eine Wohnung als andere Menschen und benötigen mehr als einen überdachten Schlafplatz.
                               
Sie fordern einen Paradigmenwechsel in der Wohnungslosenhilfe durch Housing First. Was läuft derzeit falsch?    
Im deutschen Stufenmodell werden wohnungslose Menschen nur vorübergehend in Wohnungen betreut und bereitgestellter Wohnraum dient lediglich als Trainingswohnung. Die Betroffenen sollen zunächst außerhalb des normalen Wohnungsmarktes beweisen, dass sie „wohnfähig“ sind. Mit dem Wohnen ist es jedoch wie mit dem Fahrradfahren. Ohne Fahrrad kann ich nicht beweisen, dass ich es kann, und fahren lernt man am besten mit einem eigenen Fahrrad. Wenn man Wohnen wirklich lernen muss, dann gelingt das am besten in einer eigenen Wohnung und mit der gebührenden Unterstützung. Momentan müssen Wohnungslose im Hilfesystem nach einiger Zeit selber gucken, wie sie an eine reguläre Wohnung kommen. Viele scheitern daran und werden zu Dauer- beziehungsweise Drehtürklienten in der Wohnungslosenhilfe. Housing First zielt auf diese Gruppe der Langzeitwohnungslosen ab, denen die bisherigen Ansätze nicht helfen.                        


Was zeichnet Housing First aus?               
Ganz grundsätzlich wird Wohnen als etwas verstanden, dass man sich nicht verdienen muss, sondern was als Menschenrecht nicht an die Erfüllung von irgendwelchen Voraussetzungen gebunden ist. Housing First heißt dabei nicht „Housing Only“. Nach der Schlüsselübergabe sind die Menschen nicht auf sich allein gestellt. Hilfe wird ihnen da angeboten, wo sie sie benötigen und wollen. Der Ansatz folgt acht Prinzipien: Betroffene können nach eigenen Präferenzen frei entscheiden. Wohnen und Betreuung verlaufen möglichst getrennt. Der Glaube, dass die Menschen ein besseres Leben gestalten können, ist fest verankert. Teil des Ansatzes ist ein akzeptierender Umgang mit Drogenkonsum und Suchterkrankungen. Die Klient/innen sind aktiv und ohne Druck oder Zwang zu beteiligen. Hilfe wird nachdrücklich angeboten. Die Vergabe der Wohnung ist jedoch nicht daran gebunden, dass sie angenommen wird. Housing First bietet so lange wie nötig eine flexible Unterstützung. Wichtig ist, dass es sich bei den bereitgestellten Wohnungen um Individualwohnraum handelt, den sich die Betroffenen mit niemandem teilen müssen, den sie nicht ausgesucht haben. Die Wohnungen werden dauerhaft vergeben und sind von vornherein mit den entsprechenden Mietrechten ausgestattet.                        


Wie ist Ihr bisheriger Eindruck des Berliner Modellprojekts für Housing First?        

Das Projekt ist bisher sehr erfolgreich und die Mitarbeiter/innen setzen sich intensiv mit den Prinzipien auseinander. Es gelingt erstaunlich gut, Wohnraum zu akquirieren, obwohl die Senatsverwaltung lediglich die Personalstellen für die Wohnraumakquise schuf, aber keine kommunalen Wohnungen zur Verfügung stellt. Das Hauptproblem ist die Befristung des Projekts. Das widerspricht dem Prinzip, dauerhafte Hilfe anzubieten. In Zukunft geht es um die Frage, wie der Ansatz verstetigt und ausgeweitet werden kann. Ziel muss es sein, dass aus dem Pilotprojekt ein dauerhaftes Modell für viele Wohnungslose wird und nicht nur für ein paar wenige Ausgewählte. Dieses Problem haben alle Modellvorhaben europaweit. Die meisten zeigen, dass Housing First zu einer deutlich besseren Versorgung führt. Es fehlen aber die Möglichkeiten, das Modell in großem Stil umzusetzen. Staatlicherseits muss mehr getan werden, um Wohnungslosen normalen Wohnraum zugänglich zu machen. Es gibt viele Barrieren bei der Wohnungssuche, etwa negative Schufa-Einträge. Das zentrale Nadelöhr sind jedoch die Wohnungen. Ohne die gibt es keine „Wohnungen zuerst“. Ein Kollege in Australien sagte einmal: „Housing First is nice but where is the housing?“   
                                   
Finnland gilt als Paradebeispiel für Housing First. Was macht Finnland anders?        

In Finnland gibt es einen gesellschaftlichen Konsens über die politischen Lager hinweg, dass Wohnungslosigkeit ein Skandal ist und in einem reichen Land keine Normalität sein darf. Bereits 1987, im UNO-Jahr der Menschen in Wohnungsnot, lobten die Finnen das Ziel aus, die Wohnungslosigkeit zu halbieren. Das gelang ihnen tatsächlich. Finnland ist nicht das einzige europäische Land mit einer nationalen Housing-First-Strategie, aber niemand hat es so ernst genommen, Wohnraum zu schaffen. Von Anfang an folgte Finnland dem Grundsatz, Wohnungslosigkeit durch die Bereitstellung von Wohnungen zu vermindern. Dafür baute das Land in erheblichem Ausmaß neue Wohnungen. Die Finnen schlossen Unterkünfte für Langzeitwohnungslose und schufen als Ersatz normale Wohnungen, teilweise indem sie die alten Unterkünfte umbauten. Im Rahmen von Housing First entwickelten sie weitere unterstützende Hilfen, damit die Menschen in den Wohnungen bleiben können. Die zuletzt verabschiedete Strategie zielt darauf, die Prävention von Wohnungsverlusten auszubauen.   

                           
Wer stellt die Wohnungen in Finnland bereit?        
Der wichtigste Träger ist die Y-Stiftung, die landesweit Wohnraum baut und ankauft, um sie für Wohnungslose zur Verfügung zu stellen. Sie wurde durch einen Zusammenschluss aus Kommunen, Kirchen und Trägern aus der Wohlfahrt gegründet. Auch der größte finnische Alkoholhersteller war darunter, da viele
Wohnungslose ein Alkoholproblem haben. Die Stiftung erwirtschaftet keine Profite, sondern verfolgt ausschließlich das Ziel einer dauerhaften Wohnungsversorgung. Mittlerweile hat die Stiftung Tausende Wohnungen in ihrem Bestand, die sie insbe-
sondere an alleinstehende Wohnungslose und Geflüchtete 
vergibt.    
              

              
Welche Rolle spielt der Neubau für ein funktionierendes Housing First?            

Schnell eine große Menge an Wohnungen zu akquirieren, funktioniert vor allem über die Aktivierung des Bestands. Aber das eine zu machen schließt das andere nicht aus. Neubau spielt im Besonderen im Bereich der Kleinwohnungen, wo das größte Defizit besteht, und bei Wohnraum für große Familien, wo es wegen der Geflüchteten einen wachsenden Bedarf gibt, eine wichtige Rolle. Bei größeren Neubauprojekten gilt es dafür zu sorgen, einen bestimmten Teil der Wohnungen an Wohnungslose oder von Wohnungslosigkeit Bedrohte zu vergeben. Im beschränkten Ausmaß kann auch mal komplett für Wohnungslose gebaut werden. Keine 100 Wohnungen in einem Haus, aber freie Träger sollten das verstärkt betreiben.           

                       
Vielen Dank für das Gespräch.   
                                       
Das Interview führte Philipp Möller.         

Prof. Dr. rer. pol. Volker Busch-Geertsema ist Diplomsozialwissenschaftler und seit 1991 als Projektleiter bei der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung (GISS Bremen e.V.) beschäftigt. Seit 2015 ist er „Honorary Professor“ der Heriot Watt University, Edinburgh, Schottland. Seit 2009 ist er Koordinator des von der EU-Kommission geförderten European Observatory on Homelessness. Er hat vielfach zu Wohnungslosigkeit, sozialer Ausgrenzung und Integration publiziert.


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